261 - Ein falscher Engel
Zwanzig Fässer allerbesten Mecgreger-Uisges lagerten hinter ihnen auf dem Bock. Rulfan wäre gerne noch länger geblieben, vielleicht sogar gleich nach Glesgo gegangen, um Ninian zu suchen, aber Jed Stuart musste so schnell wie möglich aus erster Hand von den Ereignissen erfahren und eine Untersuchungskommission einsetzen. Wenn die Mecgregers sahen, dass etwas getan wurde, würde sie das von Racheaktionen abhalten.
Als es am frühen Abend auf Canduly Castle ankam, wurde das Trio freudig begrüßt. Für Anges war die Ankunft der Uisge-Fässer allerdings kein Grund, das Schwerttraining mit seinem kleinen Bruder Turner auf dem Burghof zu unterbrechen. Er hob lediglich kurz das Holzschwert und fuhr dann damit fort, Turner in die Kunst des Fintierens einzuweihen. Rulfan sah, dass Anges ein sehr geschickter Kämpfer war, Turner sich aber eher linkisch anstellte. Es schien ihm keinen rechten Spaß zu machen. Aber weil Anges es wollte, hielt er wohl durch.
Sieben Bedienstete, die nicht zu Pellams Familie gehörten, luden die Fässer ab und rollten sie über eine Rampe in die weitläufigen Kellerräume.
Da haben wir ihn also, unseren Uisge-Cola , dachte Rulfan und erinnerte sich kurz daran zurück, wie sie den Mecgreger-Uisge bei Jed Stuart zum ersten Mal gekostet hatten. Sein Blutsbruder Matthew Drax hatte den Geschmack sofort erkannt: »Whisky-Cola hab ich zu meiner Zeit öfter mal getrunken. Vielleicht haben die Mecgregers irgendwo palettenweise Colaflaschen gefunden, oder in einer Getränkefabrik das Rezept für den geheimen Zusatz, und peppen damit jetzt ihren Whisky auf. Kein Wunder, dass sie alle anderen um Längen schlagen.«
In gewissen Dingen hatte Matt mit seinem »Wissen der Ahnen« eben unbestreitbare Vorteile.
Rulfan wandte sich ab und ging ins Haus. Die Reise steckte ihm in den Knochen und er sehnte sich nach seinem Bett. Gleich am nächsten Morgen würde er nach Stuart Castle aufbrechen, um Jed zu unterrichten. Auch von Ninian. Er bezweifelte, sie das letzte Mal gesehen zu haben. So leicht würde sie es nicht aufgeben, in ihm ihren
»Aynjel« zu sehen.
***
7. Januar 2526
Ninian stapfte unermüdlich durch den tiefen Schnee. Seit vielen Stunden kämpfte sie sich durch die schroffen, unwirtlichen Highlands, überwand steile Felsen, reißende Bergflüsse, dichte Tannenwälder und eisbedeckte Abhänge, ohne die geringsten Ermüdungserscheinungen zu zeigen.
Schon seit frühester Kindheit verließ sich Ninian auf ihre Beine und legte selbst größere Strecken lieber zu Fuß als auf einem Tier oder in einem Transportmittel zurück. Den leichten Trab, den sie dabei meistens anwandte, konnte sie momentan allerdings nicht umsetzen. Zum allerersten Mal ärgerte sie sich darüber, denn je schneller sie ans Ziel kam, desto besser war es.
Zwischendurch stopfte sie sich immer wieder Shmaldan in den Mund, eine zähe gelbliche Paste, die aus Taratzenfett, Frekkeuschermilch, zerstoßenen Grassamen, getrockneten Beeren, zerriebenem Trockenfleisch und Pflanzensirup zusammengesetzt war. Diese ranzig und herb schmeckende, lang haltende Notnahrung der Wandernden Völker hatte Ninian auf ihren Wanderungen durch Britana schätzen gelernt.
Schließlich erreichte sie den schmalen Pass zwischen steilen Bergen, der hinunter nach Kileeg am Lokreench ( das ehemalige Kinloch am Loch Rannoch ) führte. Gerade als sich das weite Tal vor ihr öffnete, erschien links von ihr, auf einem schroffen Felsen, eine Gestalt.
»Halt!«, sagte der bärtige Krieger im weißen Izeekepirmantel und mit einer Fellmütze auf dem Kopf. Dabei richtete er eine Armbrust auf sie. »Wer biste und was willste?«
Ninian stoppte sofort und hob die Hände. Sie schaute sich um.
Weitere bewaffnete Krieger erschienen auf den Felsen ringsum. Der Kerl im Izeekepirmantel erkannte sie plötzlich. »Bei Orguudoo, das ist eine von den Exekutoren! Die war doch neulich schon mal hier. Bleib bloß stehen, Weib. Bei der geringsten Bewegung kriegste unsere Pfeile innen Wanst. Was willste hier?«
Ninian bemerkte, dass die Männer übernervös waren. Das konnte unmöglich nur an ihr liegen. Sie deutete auf ihren Mund und winkte den Krieger heran.
»Was soll das heißen? Kannste etwa nich reden? Also gut, ich komm. Aber bild dir bloß keine Schwachheiten ein. Auch wenn du’n Exekutor bist, gegen uns alle haste keine Chance.« Er wandte sich an die anderen Passwachen. »Wenn’se dumm tut, schießt ihr sie sofort ab, verstanden? Und behaltet die Umgebung im Auge. Nich,
Weitere Kostenlose Bücher