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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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die mit einer Metallschnalle geschlossen waren. Ihr Haar war kastanienbraun, der Teil, der ihr in die Stirn hing, etwas heller, als hätte sie ihn gefärbt. An ihrem Körper wurden acht Stichwunden gezählt, drei davon in Höhe des Herzens. Einem der Polizisten kamen die Tränen, als er sie sah. Die Sanitäter stiegen in die Senke hinunter und banden sie auf der Bahre fest, denn der Rückweg war tückisch, und wenn sie stolperten, würde ihre kleine Last auf dem Boden landen. Niemand meldete sich wegen ihr. Nach offizieller Darstellung der Polizei war sie nicht in Santa Teresa wohnhaft. Was hatte sie hier zu suchen? Wie war sie hierhergekommen? Darauf gab es keine Antwort. Ihre Personendaten gingen per Fax an mehrere Kommissariate des Landes. Die Ermittlungen leitete Kommissar Ángel Fernandez, und der Fall kam bald zu den Akten.
    Wenige Tage später fand man auf Höhe der Senke, jedoch auf der anderen Seite der Straße, die Leiche eines zweiten, etwa dreizehnjährigen Mädchens, erwürgt. Wie das vorige Opfer hatte auch sie nichts bei sich, das Aufschluss über ihre Identität hätte geben können. Bekleidet war sie mit einer kurzen weißen Hose und einem grauen Sweater mit dem Emblem einer amerikanischen Footballmannschaft. Nach Ansicht des Gerichtsmediziners war sie seit vier Tagen tot, weshalb die Möglichkeit bestand, dass man sich beider Leichen am selben Tag entledigt hatte. Juan de Dios Martínez fand diese These gelinde gesagt etwas seltsam, denn um die erste Leiche in die Senke zu schaffen, hätte der Mörder zwangsläufig den Wagen mit der anderen Leiche an der Straße nach Casas Negras zurücklassen müssen, was nicht nur das Risiko barg, dass eine Polizeistreife anhielt, sondern auch, dass irgendwelche Gauner vorbeikamen und ihn stahlen. Das Gleiche galt für den Fall, dass er sich erst der Leiche auf der anderen Seite der Straße entledigt hätte, also nahe der Ortschaft El Obelisco, die eigentlich keine Ortschaft war, auch keine neue Siedlung von Santa Teresa, eher ein Auffanglager für die Ärmsten der Armen, die täglich aus dem Süden eintrafen und hier die Nacht verbrachten und nicht selten hier starben, in Hütten, die sie nicht als Bleibe ansahen, sondern als eine Durchgangsstation auf dem Weg irgendwohin, wo es anders wäre oder wenigstens etwas zu beißen gäbe. Manche nannten den Ort nicht El Obelisco, sondern El Moridera. Womit sie nicht ganz unrecht hatten, denn einen Obelisken suchte man dort vergebens, dafür starben die Leute dort viel schneller als anderswo. Aber früher, als die Grenzen der Stadt noch anders verliefen und Casas Negras eine, sagen wir, unabhängige Ortschaft war, gab es einen Obelisken. Einen Obelisken aus Stein oder vielmehr aus drei übereinandergeschichteten Steinen, ein ungeschlachtes Gebilde, in dem man mit etwas Phantasie und Sinn für Humor einen primitiven Obelisken erkennen konnte oder einen von ungeübter Kinderhand geformten Obelisken, das Werk eines riesenhaften Kleinkinds, das in der Umgebung von Santa Teresa lebte, durch die Wüste krabbelte, Skorpione und Eidechsen aß und niemals schlief. Das Praktischste wäre gewesen, dachte Juan de Dios Martínez, sich beider Leichen an ein und derselben Stelle zu entledigen, erst die eine, dann die andere. Statt die eine zur Senke zu schleifen, sie gleich hier, ein paar Meter hinter der Leitplanke, abzulegen. Und die andere genauso. Warum das Risiko eingehen und bis kurz vor El Obelisco laufen, wenn man sie überall hätte hinwerfen können? Es sei denn, dass in dem Wagen drei Mörder saßen, einer, der fuhr, und zwei, die rasch die beiden toten Mädchen verschwinden ließen, die kaum etwas wogen, für jeden sicher nicht mehr als ein kleines Köfferchen. Die Wahl von El Obelisco erschien dadurch in einem anderen Licht, bekam andere Konturen. Beabsichtigten die Mörder, dass sich der Verdacht der Polizei auf die Bewohner dieses Häusermeers aus Pappkartons richtete? Warum hatten sie dann aber nicht beide Leichen dort abgeladen? Der Wahrscheinlichkeit wegen? Und was, wenn beide Mädchen vielleicht in El Obelisco gelebt hatten? Wo sonst in Santa Teresa konnte es zehnjährige Mädchen geben, die niemand vermisste? Dann hatten die Mörder gar kein Auto? Überquerten mit dem ersten Mädchen die Straße, trugen sie bis zu der Senke in der Nähe von Casas Negras und ließen sie dort achtlos liegen? Aber wenn sie sich schon diese Mühe machten, warum vergruben sie sie nicht? Weil der Boden der Senke steinhart war und sie kein

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