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Informatik und Computer. Die Zeitung La Razón, für die Sergio González arbeitete, hatte einen Neuling vom Boulevardteil entsandt, der sich die Unterlagen zu dem Fall in der Maschine nach Hermosillo durchlas, darunter auch die Berichte von Sergio González, der in DF blieb und an einem langen Artikel über die jüngste Entwicklung in der mexikanischen und lateinamerikanischen Literatur schrieb. Bevor sie den Neuling losschickten, stieg der Chef vom Boulevardteil die fünf Stockwerke hinauf, die ihn von der Kultur trennten, ein Umstand, der ihn dennoch fast nie verleitete, den Aufzug zu nehmen, und fragte Sergio, ob er hinfahren wolle. Der sah ihn nur an, sagte nichts und schüttelte dann den Kopf. Ebenfalls im Januar gab die Ortsgruppe der Organisation FRAUEN VON SONORA FÜR DEMOKRATIE UND FRIEDEN (FSDF) in Santa Teresa eine Pressekonferenz, zu der lediglich die Vertreter zweier Lokalzeitungen erschienen und auf der über die quälende und rücksichtslose Behandlung der Familien der ermordeten Frauen berichtet und ein offener Brief verlesen wurde, den man in der Sache an den Gouverneur von Sonora, Herrn José Andrés Briceño vom PAN, und an das Justizministerium der Republik Mexiko zu schicken gedachte. Die Ortsgruppe der FSDF wuchs von drei Aktivistinnen oder Sympathisantinnen auf zwanzig. Der Januar 1996 war für die Polizei von Santa Teresa dennoch kein schlechter Monat. Drei Kerle starben bei einer Schießerei in einer Bar unweit der alten Bahntrasse, vermutlich eine Abrechnung unter Drogenhändlern. Auf einem von Schleppern benutzten Schleichweg fand man einen Mittelamerikaner mit durchschnittener Kehle. Und ein kleiner Dicker mit einem skurrilen Schlips, der über und über mit Regenbögen und nackten, tierköpfigen Frauen bedruckt war, schoss sich beim Russisch-Roulette in einem Nachtclub in Madero-Norte eine Kugel in den Rachen. Aber weder auf den Brachflächen der Stadt noch in den Außenbezirken oder in der Wüste tauchten weitere tote Frauen auf.
Anfang Februar jedoch verständigte ein anonymer Anrufer die Polizei wegen des Funds einer Leiche in einem alten Eisenbahnschuppen. Dem Gerichtsmediziner zufolge handelte es sich um eine etwa dreißigjährige Frau, obwohl jeder, der sie mit eigenen Augen sah, ihr durchaus vierzig Jahre zugetraut hätte. Zwei Stichverletzungen waren ihr Verhängnis. Außerdem wiesen ihre Unterarme tiefe Schnittwunden auf. Nach Ansicht des Gerichtsmediziners stammten sie wahrscheinlich von einem Bowie-Messer, einem großen Bowie-Messer mit breiter Klinge, wie man sie aus Hollywoodfilmen kennt. Auf Nachfrage fügte er hinzu, er habe an Westernfilme und Messer zur Bärenjagd gedacht. Also an ein sehr großes Bowie-Messer. Am dritten Tag der Ermittlungen lieferte der Gerichtsmediziner eine weitere wichtige Fährte. Die Tote war eine Indianerin. Sie konnte eine Yaqui sein, was er aber nicht glaubte, oder eine Pima, was er auch nicht glaubte. Weiter bestand die Möglichkeit, dass sie eine Maya aus dem südlichen Sonora war, aber offen gestanden glaubte er auch das nicht. Was für eine Indianerin also dann? Nun, möglicherweise eine Seri, doch gewisser physischer Merkmale wegen hielt der Gerichtsmediziner das für unwahrscheinlich. Sie konnte sonst eine Pápago sein, was nur natürlich wäre, da die Pápagos die Santa Teresa geographisch am nächsten beheimateten Indianer waren, doch seiner Ansicht nach traf auch das nicht zu. Am vierten Tag sagte der Gerichtsmediziner, den seine Studenten schon den Doktor Mengele von Sonora nannten, er sei nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gelangt, die tote Indianerin müsse eine Tarahumara sein. Was tut eine Tarahumara in Santa Teresa? Sie arbeitet wahrscheinlich als Hausangestellte bei einer Familie aus der Mittel- oder Oberschicht. Oder wartet auf ihre Einreise in die USA. Die Ermittlungen konzentrierten sich auf die Schlepperszene und auf Haushalte, deren Dienstmädchen plötzlich verschwunden waren. Die Tote geriet bald in Vergessenheit.
Die nächste Tote fand man zwischen der Straße nach Casas Negras und einer namenlosen, von Gestrüpp und wilden Blumen überwucherten Senke. Es war die erste Tote, die im März 1996 gefunden wurde, ein unheilvoller Monat, in dem noch fünf weitere Frauenleichen auftauchen sollten. Unter den sechs Polizisten, die am Tatort erschienen, befand sich auch Lalo Cura. Die Tote war ungefähr zehn Jahre alt. Ihre Größe betrug ein Meter siebenundzwanzig. Sie trug Schühchen aus durchsichtigem Plastik,
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