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der Frau zwischen achtzehn und zwanzig Jahren. Sie hatte keine Papiere bei sich, die Aufschluss über ihre Identität geben konnten, und niemand erhob Anspruch auf den Leichnam, weshalb sie nach einer angemessenen Frist im Sammelgrab beigesetzt wurde.
Am zweiten April erschien Florita Almada zusammen mit einigen Aktivistinnen der FSDF in Reinaldos Sendung. Florita Almada verkündete, dass sie nur gekommen sei, um diese Frauen vorzustellen, die etwas Wichtiges zu sagen hätten. Die FSDF-Aktivistinnen sprachen daraufhin von der in Santa Teresa herrschenden Gesetzlosigkeit, von der Nachlässigkeit der Polizei, der Korruption und der seit 1993 ständig wachsenden Zahl ermordeter Frauen. Dann bedankten sie sich bei dem netten Publikum und unserer Freundin Florita Almada und verabschiedeten sich, nicht ohne vorher einen Appell an den Gouverneur von Sonora, Herrn José Andrés Briceño, zu richten, endlich eine Situation zu beenden, die eines Landes unwürdig sei, in dem angeblich Menschenrechte und Gesetze respektiert würden. Der Senderchef rief Reinaldo an und war kurz davor, ihn zu entlassen. Reinaldo verlor die Nerven und sagte, er solle ihn doch rauswerfen, wenn der Befehl von oben so laute. Der Chef nannte ihn Schwuchtel und Aufwiegler. Reinaldo schloss sich in seiner Garderobe ein und telefonierte mit ein paar Leuten in Los Angeles, die eine Radiosendung machten und ihn gern für ihr Team gewonnen hätten. Der Produzent der Sendung sagte zum Senderchef, er solle Reinaldo besser in Frieden lassen. Der Chef schickte seine Sekretärin los, Reinaldo zu holen. Reinaldo weigerte sich zu kommen und telefonierte weiter. Der Chicano, mit dem er sprach, erzählte ihm die Geschichte von einem Serienmörder in Los Angeles, der es nur auf Schwule abgesehen hatte. Meine Güte, sagte Reinaldo, hier gibt es einen, der es nur auf Frauen abgesehen hat. Der Mörder von Los Angeles war ein Marodeur der Schwulenbars. Solche Leute wird es immer geben, sagte Reinaldo, Wölfe, die sich unter die Schafherde mischen. Der Mörder aus Los Angeles gabelte die Schwulen in Schwulenbars oder in Straßen auf, wo sich die männliche Prostituiertenszene traf, fuhr mit ihnen irgendwohin und brachte sie dort um. Er war blutrünstig wie Jack the Ripper. Er schlachtete seine Opfer regelrecht ab. Wird man die Geschichte verfilmen?, fragte Reinaldo. Schon geschehen, sagte der Chicano am anderen Ende der Leitung. Hat die Polizei ihn denn gefasst? Natürlich, sagte der Chicano. Ein Glück!, sagte Reinaldo. Und wer spielt mit in dem Film? Keanu Reeves, sagte der Chicano. Keanu in der Rolle des Mörders? Nein, als der Polizist, der ihn fasst. Und wer spielt den Mörder? Dieser Blonde, wie heißt er gleich? Der genauso heißt wie die Figur in einem Roman von Salinger, sagte der Chicano. Ah, den Autor habe ich nie gelesen, sagte Reinaldo. Du hast Salinger nicht gelesen?, sagte der Chicano. Nun ja, nein, sagte Reinaldo. Eine gewaltige Lücke in Ihrem Leben, Bruder, sagte der Chicano. Ich lese in letzter Zeit nur noch schwule Autoren, weißt du, sagte Reinaldo. Wenn möglich schwule Autoren mit ähnlichem literarischem Background wie ich. Das musst du mir in LA mal genauer erklären, sagte der Chicano. Nachdem er aufgelegt hatte, schloss Reinaldo die Augen und malte sich aus, wie es wäre, in einem Viertel mit hohen Palmen, kleinen, aber hübschen Bungalows und angehenden Schauspielern als Nachbarn zu leben, die er interviewen würde, lange bevor sie berühmt wurden. Dann sprach er mit dem Produzenten der Sendung und dem Senderchef, die in seiner Garderobentür standen und ihn beide baten, die Sache zu vergessen und bei der Stange zu bleiben. Reinaldo sagte, er werde es sich überlegen, er habe noch andere Angebote. Am Abend gab er in seiner Wohnung ein Fest, und als der Morgen graute, schlugen einige Freunde vor, an den Strand zu gehen und den Sonnenaufgang anzusehen. Reinaldo zog sich in sein Schlafzimmer zurück und rief Florita Almada an. Nach dem dritten Läuten nahm die Seherin ab. Reinaldo fragte, ob er sie geweckt habe. Florita Almada sagte ja, aber das mache nichts, da sie gerade von ihm geträumt habe. Reinaldo bat sie, ihm den Traum zu erzählen. Florita Almada sprach von einem Sternschnuppenregen an einem Strand von Sonora und beschrieb einen Jungen, der aussah wie er. Und dieser Junge betrachtete den Sternschnuppenregen?, fragte Reinaldo. Genau, sagte Florita Almada, er betrachtete den Sternschnuppenregen, während das Meer seine Waden umspülte. Wie
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