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müsse, dass man in einer modernen Gesellschaft lebe, obgleich sie der Ansicht sei, dass jeder Mensch, ganz gleich, wo er lebe, in bestimmten Momenten Dinge sehen oder sich vorstellen könne und dass sie sich in letzter Zeit tatsächlich nur Frauenmorde vorstelle. Eine gutherzige Hochstaplerin, dachte Sergio. Warum gutherzig? Weil alle alten Mütterchen in Mexiko ein gutes Herz haben? Wohl eher ein Herz aus Stein, dachte Sergio, um all das zu ertragen. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, nickte Florita mehrmals. Und woher wissen Sie, dass es sich um die Morde von Santa Teresa handelt?, fragte Sergio. Wegen der Last, sagte Florita. Und wegen der Kette. Auf die Bitte, sich deutlicher auszudrücken, sagte sie, ein ganz gewöhnlicher Mord (obwohl es ganz gewöhnliche Morde nicht gebe) ende fast immer mit einem flüssigen Bild, See oder Brunnen, das sich, nachdem es aufreißt, wieder beruhigt, während eine Mordserie wie die in der Grenzstadt ein schweres, metallisches oder mineralisches Bild erzeuge, ein Bild, beispielsweise, das verbrannte, das Vorhänge verbrannte, das tanzte, nur: Je mehr Vorhänge es verbrannte, desto dunkler wurde das Schlafzimmer oder Wohnzimmer oder der Schuppen oder die Scheune, wo alles geschah. Und können Sie das Gesicht der Mörder sehen?, fragte Sergio, der sich plötzlich müde fühlte. Manchmal, sagte Florita, manchmal kann ich ihre Gesichter sehen, aber beim Aufwachen habe ich sie vergessen. Wie würden Sie ihre Gesichter beschreiben, Florita? Nun, es sind ganz gewöhnliche Gesichter (obwohl es auf der Welt, zumindest in Mexiko, ganz gewöhnliche Gesichter nicht gebe). Sie würden also nicht sagen, dass es Mördergesichter sind? Nein, nur dass es große Gesichter sind. Groß? Ja, groß, wie aufgedunsen, aufgeblasen. Masken? Würde ich nicht sagen, sagte Florita, es sind Gesichter, keine Masken oder Verkleidungen, nur dass sie aufgedunsen sind, als würden sie zu viel Kortison nehmen. Kortison? Oder irgendein anderes Kortikoid, sagte Florita. Also sind sie krank? Keine Ahnung, kommt drauf an. Und worauf? Auf den Blickwinkel, unter dem man sie betrachtet. Halten sie selbst sich für krank? Nein, gar nicht. Wissen sie, dass sie gesund sind? Wissen, was man so wissen nennt, niemand auf dieser Welt weiß irgendetwas mit völliger Sicherheit, Söhnchen. Aber sie halten sich für gesund. Ich denke schon, sagte Florita. Und ihre Stimmen, haben Sie die schon einmal gehört?, fragte Sergio (sie hat mich Söhnchen genannt, das darf nicht wahr sein, sie hat mich Söhnchen genannt). Ganz selten, aber ab und zu habe ich sie schon gehört. Und was sagen sie, Florita? Ich weiß es nicht, sie sprechen Spanisch, ein verworrenes Spanisch, das sich gar nicht spanisch anhört, auch nicht englisch, manchmal denke ich, sie sprechen eine Phantasiesprache, aber das kann nicht sein, denn einige Worte verstehe ich, ich würde also sagen, dass es Spanisch ist, was sie sprechen, und dass sie Mexikaner sind, nur dass mir der Großteil ihrer Worte unverständlich bleibt. Sie hat mich Söhnchen genannt, dachte Sergio. Nur einmal, darum darf man wohl annehmen, dass es sich bei ihr nicht um eine hohle Floskel handelt. Eine gutherzige Hochstaplerin. Man bot ihm ein weiteres Bier an, er lehnte ab. Er sagte, er fühle sich müde. Er sagte, er müsse zurück ins Hotel. Reinaldo sah ihn mit unverhohlenem Groll an. Was kann ich dafür?, dachte Sergio. Er ging auf die Toilette: Es roch nach alter Frau, aber am Boden standen zwei Töpfe mit dunkelgrünen, fast schwarzen Pflanzen. Gute Idee, Pflanzen im Klo, dachte Sergio, während er die Stimmen von Reinaldo, José Patricio und Florita hörte, die offenbar im Wohnzimmer miteinander diskutierten. Durch das winzige Klofenster sah man einen kleinen, betonierten Patio, der feucht wirkte, als hätte es gerade geregnet, und in dem er neben Kübeln mit Grünpflanzen Töpfe mit roten und blauen Blumen unbekannter Sorte ausmachte. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, nahm er nicht wieder Platz. Er gab Florita die Hand und versprach, ihr den Artikel zu schicken, den er zu veröffentlichen gedachte, obwohl er genau wusste, er würde ihr nichts schicken. Es gibt etwas, das verstehe ich doch, sagte die Heilige, als sie sie zur Tür begleitete. Während sie das sagte, schaute sie erst Sergio und dann Reinaldo an. Und was verstehen Sie, Florita? Was du nicht sagst, Florita, sagte Reinaldo. Jeder lässt, wenn er spricht, zumindest teilweise seine Freude und seinen Schmerz durchblicken,
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