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Nein, lassen Sie es besser zu, sagte einer der Beamten. Warum? Der Geruch, es riecht nach Verwesung. Es riecht nicht gut. Zehn Minuten später waren sie an der Müllkippe.
Und was halten Sie von der ganzen Sache? fragte einer der Journalisten die Anwältin. Die Anwältin senkte den Kopf und sah dann den Reporter und danach Haas an. Chuy Pimentel machte ein Foto von ihr: Sie sah aus, als würde sie keine Luft bekommen, als würde ihre Lunge jeden Moment platzen, obwohl sie anders als Leute, die keine Luft bekommen, nicht rot, sondern kreidebleich war. Das war eine Idee von Señor Haas, mit der ich mich nicht unbedingt identifiziere. Dann sprach sie von Haas' Wehrlosigkeit, von hinausgezögerten Gerichtsverhandlungen, von Beweisen, die verloren gingen, von unter Druck gesetzten Zeugen, von der Vorhölle, in der ihr Mandant schmachte. Jeder andere in seiner Situation würde die Nerven verlieren, flüsterte sie. Die Reporterin von El Independiente de Phoenix sah sie spöttisch und neugierig an. Sie haben ein Verhältnis mit Klaus, richtig? fragte sie. Die Reporterin war jung, noch keine dreißig, und an den Umgang mit Leuten gewöhnt, die offen und manchmal brutal sagten, was sie dachten. Die Anwältin war über vierzig und wirkte müde, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. Auf diese Frage antworte ich nicht. Das tut nichts zur Sache.
Am sechzehnten November wurde auf dem Gelände hinter der Maquiladora Kusai in der Siedlung San Bartolomé die Leiche einer weiteren Frau gefunden. Ersten Ermittlungen zufolge war das Opfer zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahre alt, als Todesursache nannte das gerichtsmedizinische Gutachten Ersticken infolge von Strangulation. Die Tote war vollkommen nackt, ihre Kleider fand man fünf Meter entfernt im Gebüsch versteckt. Allerdings nicht die vollständigen Kleider, sondern nur eine schwarze Leggins und einen roten Slip. Zwei Tage später wurde die Leiche von ihren Eltern als Rosario Marquina, neunzehn, identifiziert, verschwunden am zwölften November auf dem Weg zum Tanzen im Salón Montana in der Avenida Carranza, unweit der Siedlung Veracruz, wo die Familie wohnte. Der Zufall wollte es, dass sowohl das Opfer als auch die Eltern ausgerechnet in der Maquiladora Kusai arbeiteten. Den Gerichtsmedizinern zufolge war die Frau vor ihrem Tod mehrfach vergewaltigt worden.
Kelly erschien wie ein Geschenk. Bei unserem ersten Wiedersehen blieben wir bis zum frühen Morgen wach und erzählten uns unser Leben. Ihres war, kurz gesagt, ein Desaster. Sie hatte sich als Theaterschauspielerin in New York versucht, als Filmschauspielerin in Los Angeles, hatte sich als Model in Paris versucht, als Fotografin in London, als Übersetzerin in Spanien. Sie wollte zeitgenössischen Tanz studieren, gab aber im ersten Jahr auf. Sie wollte Malerin werden, und als sie zum ersten Mal ausstellte, wurde ihr klar, dass sie den größten Fehler ihres Lebens begangen hatte. Sie hatte nicht geheiratet, hatte keine Kinder, hatte keine Familie (ihre Mutter war gerade nach langer Krankheit gestorben), hatte keine Pläne. Das war der richtige Moment, um nach Mexiko zurückzukehren. In DF fand sie ohne Probleme Arbeit. Sie hatte Freunde und sie hatte mich, und ich, das können Sie mir glauben, war ihre beste Freundin. Aber sie musste niemanden um Unterstützung bitten (zumindest niemanden von denen, die ich kannte), denn bald begann sie, wie man sagen könnte, im Versorgungskreislauf der Kunst zu arbeiten. Das heißt, sie bereitete Ausstellungseröffnungen vor, sie kümmerte sich um Layout und Druck der Kataloge, sie schlief mit den Künstlern, sprach mit den Käufern, alles im Auftrag von vier Kunsthändlern, damals die maßgeblichen Kunsthändler von DF, die großen Unsichtbaren, die hinter den Galerien und Malern standen und alle Fäden in der Hand hielten. Ich hatte zu jener Zeit mein, verzeihen Sie, nutzloses Engagement für die Linke aufgegeben und mich immer mehr gewissen Teilen des PRI angenähert. Mein Mann hatte einmal zu mir gesagt, wenn du so weiterschreibst, wird man dich kaltstellen oder Schlimmeres. Ich hielt mich nicht mit der Frage auf, was mit »Schlimmeres« gemeint sein könnte, sondern schrieb weiter meine Artikel. Die Folge: Ich wurde nicht nur nicht kaltgestellt, sondern es mehrten sich die Anzeichen, dass die da oben ein wachsendes Interesse an mir nahmen. Es war eine unglaubliche Zeit. Wir waren jung, hatten keine allzu großen Verpflichtungen, waren unabhängig, es mangelte uns nicht an
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