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gemeint. Dann sprachen wir über regionale Fragen, über Gebietsstreitigkeiten zwischen zwei Landwirten wegen eines Flüsschens, das für alle unerklärlich über Nacht sein Bett um rätselhafte, launische zehn Meter verlagert hatte, wovon die Besitzansprüche zweier benachbarter Höfe betroffen waren, deren Grenze durch besagtes Flüsschen markiert wurde. Außerdem wurde ich nach den Ermittlungen im Fall der verschwundenen Kartoffellieferung gefragt. Ich spielte die Sache herunter. Die tauchen schon wieder auf, sagte ich.
Am frühen Vormittag kehrte ich in mein Büro zurück. Die polnischen Kinder waren bereits betrunken und spielten Fußball.
Ich ließ zwei weitere Tage verstreichen, ohne einen Entschluss zu fassen. Keiner meiner Juden starb, und einer meiner Sekretäre organisierte mit ihnen zusätzlich zu den fünf Kehrbrigaden drei Gartenbaubrigaden. Jede Brigade bestand aus zehn Juden, und außer, dass sie die Plätze des Städtchens pflegten, säuberten sie einige an der Hauptstraße gelegene Grundstücke, die von den Polen nie bewirtschaftet worden waren, und wegen Zeit- und Arbeitskräftemangels auch von uns nicht. Viel mehr tat ich nicht, wenn ich mich recht entsinne.
Ein Gefühl ungeheurer Leere breitete sich in mir aus. Wenn ich spätabends nach Hause kam, aß ich allein in der kalten Küche und hielt den Blick auf irgendeinen vagen Punkt an der weißen Wand gerichtet. Ich dachte nicht einmal mehr an meinen in Kursk gefallenen Sohn, machte das Radio nicht mehr an, um Nachrichten oder Unterhaltungsmusik zu hören. Morgens spielte ich im Bahnhofslokal Würfel mit den Bauern, die sich dort trafen, um die Zeit totzuschlagen. So verstrichen zwei Tage der Untätigkeit, die wie ein Traum waren und die ich noch um zwei weitere Tage verlängern wollte.
Die Arbeit jedoch türmte sich, und eines Morgens wurde mir klar, dass ich nicht länger vor den Problemen davonlaufen konnte. Ich rief meine Sekretäre. Ich rief den Polizeichef. Ich fragte ihn, wie viele bewaffnete Männer er auftreiben könne, um das Problem zu lösen. Er sagte, das komme drauf an, aber wenn es drauf ankam, könne er über acht Männer verfügen.
›Und was machen wir anschließend mit ihnen? ‹ fragte einer meiner Sekretäre.
›Das werden wir hier und jetzt klären‹, sagte ich.
Dem Polizeichef befahl ich, er solle gehen, aber versuchen, ständig mit meinem Büro in Verbindung zu bleiben. Dann trat ich, gefolgt von meinen Sekretären, auf die Straße, und alle zusammen stiegen wir in meinen Wagen. Der Fahrer brachte uns an den Rand des Städtchens. Eine Stunde lang fuhren wir auf Landstraßen und alten Karrenwegen herum. Hie und da lag sogar etwas Schnee. Bei einigen Höfen, die mir geeignet schienen, hielt ich an und sprach mit den Gutsbesitzern, aber alle erfanden Ausreden und erhoben Einwände.
Ich bin zu nett zu diesen Leuten gewesen, sagte ich in Gedanken zu mir selbst. Es wird Zeit, dass ich Härte zeige. Auch wenn sich Härte schlecht mit meinem Charakter verträgt. Rund fünfzehn Kilometer vom Städtchen entfernt kannte einer meiner Sekretäre eine Schlucht. Wir fuhren hin. Sie war nicht schlecht. Der Ort war abgelegen, es gab viele Kiefern und dunkle Erde. Der tiefer gelegene Teil der Schlucht war bedeckt von üppig grünendem Gestrüpp. Meinem Sekretär zufolge kamen im Frühling Leute hierher, um Kaninchen zu jagen. Der Platz war nicht zu weit von der Straße entfernt. Als wir zurück im Städtchen waren, hatte ich bereits beschlossen, was zu tun war. Am nächsten Morgen holte ich persönlich den Polizeichef von zu Hause ab. Auf dem Bürgersteig vor meinem Büro hatten sich acht Polizisten versammelt, zu denen sich vier von meinen Leuten gesellten (einer meiner Sekretäre, mein Chauffeur und zwei Verwaltungsangestellte), außerdem zwei Freiwillige: Bauern, die einfach gern dabei sein wollten. Ich sagte zu ihnen, sie sollten gründlich vorgehen und anschließend in mein Büro kommen und über das Geschehene Bericht erstatten. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie loszogen.
Nachmittags um fünf kamen der Polizeichef und mein Sekretär zurück. Sie wirkten erschöpft. Sie sagten, alles sei nach Plan verlaufen. Sie waren zur alten Gerberei gefahren und hatten das Städtchen mit zwei Kehrbrigaden verlassen. Fünfzehn Kilometer Fußmarsch. Dann weg von der Straße und mit müden Schritten in Richtung Schlucht. Dort war geschehen, was geschehen sollte. Gab es Chaos? Herrschte Chaos? Regierte das Chaos?, fragte ich. Ein
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