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Großmutter hören, die in der Wohnung über ihm auf und ab ging, als verstünde sie weder die Welt der Toten noch die Welt der Lebenden. Eines Abends kurz vor Ladenschluss sah er sie in dem einzigen Spiegel im Raum, einem alten, mannshohen viktorianischen Spiegel, vor dem die Kunden Kleidung anprobierten. Seine Großmutter betrachtete eins der Bilder an der Wand, dann wanderte ihr Blick zu den Kleidern auf den Bügeln, außerdem betrachtete sie, als sei es das Allerletzte, die beiden einzigen Tische des Ladens.
In ihrer Miene lag Entsetzen, sagte der Galerist. Das sei das erste und letzte Mal gewesen, dass er sie gesehen habe, allerdings hörte er sie ab und zu noch in den oberen Wohnungen rumpeln, wo sie sicher durch die Wände ging, die es zu ihrer Zeit noch nicht gegeben hatte. Als Espinoza nach der Art seiner früheren Arbeit in der Karibik fragte, lächelte der Galerist traurig und versicherte, er sei nicht verrückt, wie jeder hätte meinen können. Er sei Spion gewesen, sagte er, so wie andere im Standesamt oder in irgendeiner statistischen Behörde arbeiten. Ohne dass sie es sich erklären konnten, machten die Worte des Galeristen sie furchtbar traurig.
Während einer Tagung in Toulouse machten sie die Bekanntschaft von Rodolfo Alatorre, einem jungen Mexikaner, dessen Querbeetlektüre auch das Werk Archimboldis einschloss. Der Mexikaner, der über ein Literaturstipendium verfügte und seine Zeit auf die hartnäckige und offenbar vergebliche Arbeit an einem modernen Roman verwandte, nahm an einigen Kolloquien teil und stellte sich dann selbst Norton und Espinoza vor, die ihn schonungslos abfertigten, und dann Pelletier, der ihn wie Luft behandelte, denn Alatorre unterschied sich nicht im Geringsten von dem recht lästigen Schwarm europäischer Studenten, der die Archimboldi-Apostel umschwirrte. Zu seiner Schande sprach Alatorre nicht einmal Deutsch, was ihn von vornherein disqualifizierte. Im Übrigen war die Toulouser Tagung ein Publikumserfolg, und inmitten der Fauna aus Kritikern und Fachleuten, die sich von früheren Zusammenkünften her kannten und wenigstens nach außen hin glücklich schienen, sich wieder zu sehen, begierig, die alten Gespräche fortzusetzen, blieb dem Mexikaner nur die Wahl, nach Hause zu gehen, was er nicht wollte, weil seine Wohnung ein seelenloses Stipendiatenzimmer war, in dem nur seine Bücher und Manuskripte auf ihn warteten, oder sich in eine Ecke zu stellen, nach links und rechts zu lächeln und Konzentration auf philosophische Fragen vorzutäuschen, was er schließlich auch tat. Dieser Standort oder Standpunkt ermöglichte es ihm indes, Morini ins Auge zu fassen, der, an seinen Rollstuhl gefesselt und zerstreut die Grüße der anderen erwidernd, zumindest in Alatorres Augen ähnlich verloren wirkte wie er selbst. Nicht lange, nachdem er sich Morini vorgestellt hatte, spazierten der Mexikaner und der Italiener durch die Straßen von Toulouse.
Zunächst unterhielten sie sich über Alfonso Reyes, den Morini leidlich kannte, dann über Sor Juana, bei der er immer an das Buch von Morino denken musste - jenem Morino, der er selbst zu sein schien -, in dem die Kochrezepte der mexikanischen Nonne besprochen wurden. Dann sprachen sie über den Roman von Alatorre, über den Roman, den er zu schreiben beabsichtigte, und den einzigen Roman, den er bereits geschrieben hatte, über das Leben eines jungen Mexikaners in Toulouse, über die Wintertage, die, so kurz wie sie waren, einfach kein Ende nahmen, über die wenigen Freunde, die er in Frankreich hatte (als da wären: Die Bibliothekarin, ein Stipendiat aus Ecuador, den er hin und wieder traf, der Kellner einer Bar, dessen Vorstellungen von Mexiko Alatorre teils bescheuert, teils beleidigend fand), über die Freunde, die er in DF, wie Mexikos Hauptstadt in der spanischsprachigen Welt genannt wird, zurückgelassen hatte und denen er täglich lange E-Mails schrieb, die ausschließlich um seinen aktuellen Roman und die Melancholie kreisten.
Einer dieser Freunde, sagte Alatorre, übrigens in aller Unschuld, mit einem Anflug jener wenig gerissenen Prahlerei zweitklassiger Schriftsteller, einer dieser Freunde habe vor kurzem Archimboldi kennengelernt.
Morini, der Alatorre keine allzu große Beachtung schenkte und sich von ihm zu den Orten schleppen ließ, die dieser für interessant hielt und die, ohne unbedingt Sehenswürdigkeiten zu sein, tatsächlich von gewissem Interesse waren, als wäre Alatorres heimliche und wahre Berufung weniger
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