28 Tage lang (German Edition)
wollte ihn beschämen.
«Wohin?», hakte ich nach.
«Sie haben meine Abteilung dichtgemacht. Wir sollen nicht mehr die Kontakte zur polnischen Polizei pflegen, sondern bei der Umsiedlung helfen …»
Er stockte.
Ich sah ihn auffordernd an. Er hatte immer noch nicht richtig geantwortet.
«Wir haben Obdachlose zusammengetrieben», gestand Simon leise.
Vor meinen Augen sah ich, wie Deutsche und Judenpolizisten, auch Simon, auf die Schwächsten der Schwachen eindroschen. Auf Kranke, Alte, Kinder. Das Blut an seinen Stiefeln stammte von einem dieser Menschen.
Ich betete. Ja, ich betete mit einem Mal, dass dieses Blut nicht von einem obdachlosen Kind stammte. Für das Kind. Aber vor allen Dingen für Simon. Und ein kleines bisschen auch für mich.
Simon schluckte. Mehrmals. Ich hatte es geschafft, ihn zu beschämen.
Es verschaffte mir keinerlei Genugtuung.
Simon litt unter dem, was er tat. Er war ein armes, ängstliches Kind. Eins mit einem Knüppel.
Mein Mitgefühl ging nicht so weit, dass ich ihn in den Arm nahm. Dafür verachtete ich viel zu sehr, was er tat. Doch ich konnte auch nicht mehr zornig sein.
«Was arbeiten denn die Obdachlosen im Osten?», fragte Hannah in die Stille hinein. «Die sind doch viel zu schwach?»
Mama setzte sich bei dieser Frage erschrocken an den Tisch. Sie begriff nun, dass die Umsiedlung eine einzige große Lüge war.
«Die …», suchte Simon nach einer Erklärung, die sein Gesicht wahrte, aber auch Hannah keine Angst machte, «die …»
«… werden da aufgepäppelt», log ich. «Auf den Feldern bekommen sie ja auch mehr zu essen.»
«Die sind da ja direkt an der Essensquelle», bestätigte Simon.
Gemeinsam logen wir unsere kleine Schwester an, um ihr die Angst zu nehmen. Wir logen wie die Deutschen, die uns Juden anlogen, um uns wie kleine Kinder gefügig zu machen.
Hannah war nicht restlos überzeugt. Bis zu dem heutigen Tage hatte ich sie nie angelogen, im schlimmsten Fall hatte ich ihr vielleicht nicht alles erzählt, aber gelogen hatte ich nie. Ich wollte ihr gegenüber nicht so sein wie die Erwachsenen. Doch jetzt hatten die Deutschen mich ihr gegenüber zu einer Lügnerin gemacht. Und das, so spürte ich schon an ihrer Reaktion – sie zog die Schultern zusammen und sah von mir weg –, brachte uns auseinander.
«Ich … muss gehen», erklärte Simon und setzte sich seine Mütze auf. Er wandte sich noch einmal an Mama: «Es wird in den nächsten Tagen sehr schwer, das Haus zu verlassen. Ich werde euch zu essen bringen.»
«Danke», lächelte sie und streichelte ihm über die Wange, so wie früher, als er noch bei uns lebte. Er wich ihr aus, winkte Hannah mit der Hand einen leichten Abschiedsgruß zu und sah vor dem Herausgehen noch kurz zu mir. Traurig. Entschuldigend. Es tat ihm leid, was er mir angetan hatte, vielleicht sogar, dass er uns all die Monate allein gelassen hatte. Er wollte sich gerade wieder von mir abwenden, da forderte ich ihn auf: «Geh nicht zu weit.»
Seine Augen blickten noch trauriger, füllten sich mit Tränen, und er antwortete: «Das bin ich schon.»
18
In der nächsten Nacht träumte ich. Überraschenderweise jedoch nicht von Soldaten. Von Schrecken. Oder vom Tod. Nein, ich träumte etwas Absurdes. Absurd, weil es so schön war. Und mich im Traum glücklich machte. Trotz allem. Ich träumte davon, wie Daniel mich küsste. Es war einer jener Träume, die man noch weiter träumen möchte, wenn man bereits wach war, aber die Augen noch geschlossen hielt. Die Welt des Traums war so viel schöner als die echte und dank ihrer Schönheit auch kraftvoller, intensiver. Am liebsten hätte ich ewig in Daniels Armen gelegen und ihn weitergeküsst. Ich wollte nicht in die reale Welt zurückkehren, zu all dem Schrecklichen im Ghetto. Ich hielt die Augen geschlossen und spürte dem wunderbaren Traumkuss hinterher, versuchte mich an jede Einzelheit zu erinnern: an Daniels raue Lippen, an die Tatsache, dass unsere Körper nackt waren und sich aneinanderschmiegten … Doch der Traum verblasste, und je mehr ich ihn festhalten wollte, desto schneller verflüchtigte er sich.
Immerhin war es ruhig um mich herum. Ich hörte nur Mamas ruhige Atemzüge und Hannahs Schnarchen. Die beiden schliefen tief und fest. Ich hielt meine Augen weiter geschlossen, ich wollte wenigstens die Ruhe genießen, solange sie anhielt.
Das tat sie nicht lange.
Ich hörte schwere Schritte. Von Stiefeln. Sie stapften in unser Haus, gingen aber nicht die Treppen herauf,
Weitere Kostenlose Bücher