3. Die Connor Boys: Diese Nacht kennt kein Tabu
jemanden, der praktisch denkt und vernünftige Entscheidungen trifft."
„So wie du", murmelte Michael.
Es lag ein seltsamer Ausdruck in seinen Augen, den sie nicht zu deuten vermochte. „Ja, jemand wie mich", bestätigte sie ihm.
„Sehen dich die meisten Leute so? Praktisch veranlagt, immer vernünftig?"
„Ja sicher. Ich würde nicht irgendeiner spontanen verrückten Idee nachgeben oder an vergrabene Schätze glauben", sagte sie lä chelnd. „So wenig wie du."
„Stimmt." Michael trank einen Schluck Bier. „Wir sind uns sehr ähnlich. Ich habe niemals zuvor daran gedacht, nach einem vergrabenen Schatz zu suchen."
„Zuvor? Wie zuvor?"
Die Unterhaltung nahm erneut eine Wende. Michael schien alles abzuwägen, was sie sagte, als gäbe es eine unterschwellige Bedeutung, die ihr nicht auffiel. Aber er beantwortete ihre Frage nicht - er hatte keine Gelegenheit dazu.
Sie waren mit dem Essen fertig, und der Kellner kam und räumte den Tisch ab. Simone hatte ihre Schuhe ausgezogen, ein Bein hochgenommen und sich so angeregt mit Michael unterhalten, dass sie ihre Umgebun g ganz vergessen hatte, bis ein älterer Mann mit stoppeligem Kinn vor ihnen stand.
„Sie wohnen in dem Haus der Connor, nicht wahr?"
Michael hielt ihm sofort die Hand hin. „Ja, ich bin Michael Connor und Sie...?"
„Rayne Ferguson. Meine Familie fischt seit Generationen Hummer. Ich kenne Ihr Haus. Habe mich schon gefragt, ob Sie Jock begegnet sind."
„Jock?"
Mr. Ferguson zog sich einen Stuhl heran und bestellte jedem ein Bier. Simone hatte nichts gegen die Unterbrechung - der alte Mann war ein richtiges Orig inal und suchte offenbar Gesellschaft' -, aber sie war ein wenig entsetzt, als er Platz nahm und eine Geistergeschichte zu erzählen begann.
„Geister gibt es in ganz Maine, hat es immer gegeben. Wir haben unseren fußlosen Geist von Benton Falls, den fliege nden Holländer von Maine, und in Freeport gab es immer eine Taverne, in der es spukte. Unsere Piratengeister sind jedoch die bekannteren, und euer Jock ist nicht der einzige. Die Inseln von Casco Bay erstrecken sich von South Portland bis zur Mündung des Kennebec River. Eine der Insel, Jewell, war das Versteck für Captain Kidd um 1600 herum. Er soll einen Schatz auf Jewell vergraben haben, erzählt man sich. In manchen Berichten heißt es, er hätte seine Schatzkarte auf dem Totenbett weitergegeben, was ich persönlich für schwierig halte, da er durch den Strick starb und nie ein Totenbett hatte." Mr. Ferguson zog an seinen Hosenträgern und freute sich über seinen Witz. „Jedenfalls, dort auf der Insel, wo er den Schatz vergraben haben soll, sind gespenstische Lichter gesehen und selt same Geräusche gehört worden. Die Inselbewohner haben Schreie, Gestöhne und Frauenstimmen gehört."
Der alte Mann hielt inne und warf einen Seitenblick auf Simone. „Und dann ist da noch euer Jock. Er verbreitet nicht Angst und Schrecken. Aber es war sein Haus, das er um 1700 gebaut hat. Er hat es für die Frau gebaut, die er liebte. Sie ist oben den Wandelgang entlangspaziert, wenn er auf Raubzug war. Der Mann kannte keine Moral. Liebte den Kampf, liebte die See, nahm es mit jedem auf, der ihn angriff, aber er hatte eine Schwäche für die Liebe."
„Liebe?" echote Simone.
„Ja. Zweihundert Jahre gibt es jetzt die Legende über ihn. Das Haus hat mindestens ein Dutzend Mal den Besitzer gewechselt, aber die Geschichten bleiben immer gleich. Joc k mag
Liebespaare, ja. Eine Frau in Schwierigkeiten, ein Mann, der noch nicht die Richtige gefunden hat, Liebende, die nicht zueinander finden - dann taucht Jock auf. Sie können viele Leute hier in der Gegend fragen. Sie werden Ihnen alle dasselbe erzählen. Sie brauchen keine Angst zu haben, verstehen Sie? Er tut keiner Seele was zuleide. Aber es ist mit Sicherheit ein gefährliches Haus für einen allein stehenden Mann." Der alte Mann musterte sie verschmitzt. „Vielleicht seid ihr zwei ja schon verliebt, dann braucht ihr euch keine Sorgen über den alten Jock zu machen."
Erst nach elf Uhr verließen sie die Bar. Draußen war es dunkel geworden, ein leichter Nebel zog herauf. Michael legte einen Arm um Simones Schultern. Sie schaute zu ihm auf. „Wusstest du im voraus, dass wir auf so etwas stoßen würden?"
„Mit einem Geschichtenerzähler wie Ferguson habe ich nicht gerechnet, aber der Installateur hat mir das Lokal empfohlen. Er sagte, dort würden sich Leute treffen, die Geistergeschichten zu erzählen wüssten. Ich hatte so das
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