31 - Und Friede auf Erden
Jünger kam und ihm nur dann die Seligkeit verhieß, wenn er das Kreuz geduldig auf sich nahm und alle Erdengüter von sich stieß? Wo ist die Liebe, welche der geliebt, der jede ihrer Gaben so verstand, daß alles, alles, was die Rechte gibt, verborgen bleibt der andern, linken Hand? Wo ist die Liebe, die sich willig bot, als Opferlamm, trotz aller Qual und Pein, durch einen unerhörten Martertod für Freund und Feind ein ew'ges Heil zu sein?“
Es war ein schwer ernster Ton, in welchem er diese vier Fragen ausgesprochen hatte, ein Grave, welches gar nicht gewichtiger erklingen konnte. Dann hörten wir ihn in eindringlich mahnender Weise weitersprechen:
„Sie ist von Ewigkeit zu Ewigkeit; sie ehrt den Staub und glänzt im Alpenfirn. Sie trägt den Raum; sie wohnt in jeder Zeit; warum verschließt sich ihr das Menschenhirn? Es schlägt ihr Puls, wenn auch ihm unbewußt, weil er des Herzens Stimme nicht versteht, sogar in jedes Egoisten Brust, in der ein Odem auf- und niedergeht. Gib ihr doch Raum, du armes Menschenkind, den Raum, den ihr das erste Ostern gab; glaub an die Engel, die gekommen sind; sie nehmen gern den Stein dir von dem Grab!“
Wie wunderbar das zu hören war! Nicht wie eine Rede, noch weniger wie eine Deklamation. Es schien gar keiner Schallwellen und gar keines Ohrs zu bedürfen, um das Herz zu erreichen. Es wirkte unmittelbar; kein Sträuben half dagegen. Hierauf erhob er seine Stimme wieder:
„Kling weit hinaus, so weit das Wort nur klingt, du frohe Botschaft, daß der wahre Christ von Herzen gern das größte Opfer bringt, weil es für ihn ja doch kein Opfer ist. Kling weit hinaus, so weit die Erde reicht, du Wort des Heiles, das auch uns bekehrt, und wer als Jünger seinem Meister gleicht, durch den seist du der Heidenwelt beschert! Kling weit hinaus, und wo du auch ertönst, sei Evangelium für jedermann. Wenn du die Völker einigst und versöhnst, bricht für uns Christi Reich des Friedens an!“
Er hatte die letzten Sätze immer langsamer und langsamer gesprochen; nun war er still. Nach längerer Zeit hörten wir, daß er wieder nach seiner Kajüte verlangte. Er wurde hineingetragen. Wir stiegen von unserem hohen Platz hinab und folgten. Waller schien von der frischen, kräftigen Luft ermüdet und eingeschlafen zu sein. Tsi aber meinte, daß der Kranke wohl noch etwas zu sagen haben werde. Die Besprechung des Gedichtes Zeile für Zeile sei allerdings beendet; aber weil derselben die Erscheinung von Marys Mutter vorangegangen sei, dürfe man fast mit Sicherheit erwarten, daß er sie auch nun zum Schluß wiedersehen werde. Diese Bemerkung mochte auf meinem Gesicht eine, wenn auch unausgesprochene, aber doch sehr deutlich lesbare Frage hervorgebracht haben, denn er fügte, indem er dabei lächelte, hinzu:
„Sie wundern sich über die Sicherheit, mit welcher ich das wahrscheinlich Kommende voraussage? Hätten Sie eine Ahnung von der strengen, unfehlbaren Logik, mit welcher sich diese für Sie so geheimnisvollen psychischen Tatsachen entwickeln, so würden Sie nicht staunen. Die Ereignisse auf diesem Gebiet geschehen nach wenigstens ebenso unerschütterlichen Gesetzen wie die Vorkommnisse der nicht metaphysischen Welt. Miß Mary mag hier bleiben und sich still verhalten; wir beide aber nehmen wieder draußen vor der Tür Platz, wo wir beim letzten Mal gesessen haben. Sie werden bald hören, daß ich mit meinen Vermutungen das Richtige getroffen habe.“
Bei unserer vorigen Beobachtung Wallers war es früher am Abend gewesen als heut; aber auch die Mondzeit war unterdessen vorgeschritten, und so kam es, daß die Verhältnisse fast genau dieselben waren: der sanfte, weiche Schein des Lichtes fiel durch die großen Glasscheiben auf das Lager und stieg an der Gestalt des Ruhenden langsam empor. Als er das Gesicht erreicht hatte, begann Waller sich zu bewegen. Er sprach nur ein einziges Wort; es war der Name seiner Frau. Dann lag er wieder still; es war, als ob er lausche. Hierauf wurde er abermals unruhig und wendete unter leisem Flüstern sein Gesicht hin und her, bis es, dem Mondschein zugewandt, liegenblieb. Und nun begann er laut und deutlich:
„Du kamst zu mir und gabst mir Augenlicht, in eure liebe, reine Welt zu schauen. Ich sah der Wahrheit in das Angesicht und will der Herrlichen mich anvertrauen. Wen sie gelehrt, die Täuschung zu besiegen, der soll dem Schein nicht wieder unterliegen. – – – Du kamst zu mir, warst einem Engel gleich, der Liebe brachte und um Liebe bat;
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