335 - Der verlorene Sohn
war es zweifellos wert, das Wagnis einzugehen. Er lief geduckt zu dem Fenster, hangelte sich flink wie eine Taratze zum Fenster empor und kroch vorsichtig durch den Fensterrahmen. Er schaffte es, ohne sich an den Splittern zu verletzen. Behände sprang er im Inneren des Gebäudes zu Boden und eilte durch den Verbindungsflur.
Keine Wachen. Keine Kameras. Fudoh rechnete einfach nicht damit, dass ein Mitglied seiner Kommune seine Anordnung ignorieren würde.
Und vielleicht sollte ich eben deshalb schnellstens kehrtmachen und hoffen, dass mein Eindringen niemandem auffällt. Keran spürte die Stiche des schlechten Gewissens. Sein Meister wäre zweifellos enttäuscht, wenn er von seinem Eindringen wüsste.
Andererseits ging es darum, Miyu zu beeindrucken. Da würde er doch bestimmt Verständnis zeigen. Keran hatte ja nichts weiter vor, als einen Gegenstand aus dem MSC mitzunehmen, den er Miyu später überreichen konnte – als Beweis, dass er hier gewesen war.
Allerdings gab es hier nichts, was sich als Mitbringsel eignete. Der Gang war kahl bis auf einen langen Läufer am Boden – und den konnte er ja schlecht zusammenrollen und ins Freie schleppen. Also musste er weiter vordringen.
Als er um die nächste Ecke bog, sah er gerade noch, wie sich eine weitere Tür hinter Haruto schloss. Keran hechtete nach vorne. Im letzten Augenblick gelang es ihm zu verhindern, dass auch diese Tür ins Schloss fiel. Es war eins dieser neuartigen Schlösser, die nur durch kleine Kärtchen geöffnet werden konnten, die man durch einen Schlitz zog.
Keran hielt den Atem an und lauschte. Hatte ihn einer der sechs Menschen bemerkt? Da er keine aufgeregten Stimmen oder laute Schritte vernahm, atmete er vorsichtig aus und schlüpfte durch den Türspalt.
Zaghaft schlich er weiter. Türen zu weiteren, meist leeren Räumen gingen links und rechts vom Korridor ab. Kurz darauf drang Fudohs Stimme an sein Ohr, der mit den anderen sprach. Gleichermaßen machte sich erneut das schlechte Gewissen bei Keran bemerkbar. Er dankte es Fudoh schlecht, dass der ihn aufgenommen und ihm ein Leben in Frieden geschenkt hatte. Er sollte sofort von hier verschwinden.
Doch als Miyus Stimme erklang, verpufften die Zweifel wieder. Keran war begierig darauf, zu hören, was sie sagte. Vielleicht konnte er die eine oder andere Information für sein Werben nutzen. Er huschte weiter, bis er vor einer geöffneten Tür zum Stehen kam. Dahinter unterhielten sich Fudoh und Miyu.
»Die Mikro-Servos sind von einer so schlechten Qualität, dass ich nur vier davon verwenden kann«, sagte Fudoh verärgert. »Ich benötige mehr.«
»Eine Tagesreise von hier lebt ein Retrologe namens Mikkel Larsson«, antwortete Miyu. Wie lieblich ihre Stimme klang. »Sein Vortrag während des Treffens war interessant. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Servo-Technik der Alten. Er könnte einen umfangreichen Vorrat an weiteren Mikro-Servos besitzen.«
»Dann sollten wir diesem Mikkel Larsson einen Besuch abstatten«, sagte Fudoh. »Und dieses Mal werde ich euch begleiten, um die Servos an Ort und Stelle persönlich zu überprüfen.«
Keran wagte es und spähte vorsichtig in den Raum. Im nächsten Moment zuckte er zurück und presste sich fest an die Wand. Seine Knie begannen zu zittern und er biss sich auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte.
Was er gesehen hatte, schien ihm einfach unmöglich! Denn es widersprach allem, was Fudoh lehrte.
Inmitten eines Sammelsuriums verschiedenster Teknikk knieten die fünf Kameraden um Fudoh, die Köpfe gebeugt, als würden sie ihn anbeten. Aber das war es nicht, was Keran erschreckt hatte.
Neben Fudoh ragte ein Android auf! Es war ohne Zweifel ein künstlicher Mensch, denn er war noch nicht vollendet. Die Arme waren demontiert, Kabel hingen aus den Stümpfen und der Kopf war geöffnet.
Was um alles in der Welt hatte Fudoh mit Androiden zu tun?
Keran konnte nicht anders, als noch einen Blick zu riskieren. Die Gefahr, dabei entdeckt zu werden, war gering: Die Kameraden schauten zu Boden und Fudoh hatte nur Augen für das mechanische Monster neben ihm. Keran wurde übel, als der Jello jetzt beinahe zärtlich mit einer Hand über die künstliche Haut strich.
»Mit den Mikro-Servos ist die Mechanik meines neuen Körpers vollendet«, sagte Fudoh wie zu sich selbst. In seiner Stimme lag etwas beängstigend Entschlossenes. »Dann fehlt nur noch das Elektronengehirn, in das ich eine Gedächtniskopie meiner selbst übertragen kann.« Er wandte
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