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34° Ost

Titel: 34° Ost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Coppel Alfred
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TV-Relais mit einem höheren Abwehrbeamten geführt worden war. Themen der ausführlichen Erörterungen waren die Kampfmoral der Sowjetarmee sowie der Luftwaffe und die sowjetische Angriffsschlagkraft nach dem Stand des Tages. Die Zahlen, die bei dieser Bewertung des militärischen Potentials zur Sprache kamen, waren eindrucksvoll, aber nicht beunruhigend. Nach Informationen, welche Samos- und Midas-Satelliten und das Skylab lieferten, und nach geheimen Beobachtungen innerhalb der Sowjetunion waren die Bedingungen der beiden SALT-Konferenzen buchstabengetreu erfüllt worden.
    Ein zweites, nur auf Ainsworth und dessen engste Umgebung beschränktes Referat hielt ein Psychologe der Yale-Universität, der sich auf die Erstellung von ›Denkmodellen‹ spezialisiert hatte. Seit Jahren arbeitete das Verteidigungsministerium nach den Prinzipien der ›Spieltheorie‹ alle nur denkbaren Kombinationen militärischer, politischer und sozialer Faktoren aus, um durch den Computer die möglichen, aus solchen fiktiven Situationen resultierenden Absichten und Reaktionen der Sowjetunion bewerten zu lassen.
    Eine dieser Tausenden von Hypothesen bildete nun das Thema des Psychologen. Der ›Fall Leerlauf‹ war ursprünglich 1961 von der Rand Corporation ausgearbeitet und dann alljährlich den aktuellen Gegebenheiten angepasst worden. Das erste diesbezügliche Modell, auch Szenario genannt, ermöglichte Einschätzungen des sowjetischen Verhaltens, wenn durch den Tod des Präsidenten und des Vizepräsidenten plötzlich eine Führungskrise in den USA eintreten sollte. Während der inneren Unruhen nach den Attentaten der sechziger Jahre wurde das Szenario entsprechend abgeändert. Nach diesen Ergänzungen stiegen die Bewertungen der Wahrscheinlichkeit eines sowjetischen Präventivschlags von 1:60 auf 1:20. Nixons Besuche in Peking und Moskau bewirkten ein beträchtliches Absinken auf 1:200. Die Unterzeichnungen des Vietnam-Friedensabkommens in Paris zu Beginn des Jahres 1973 reduzierte die Unsicherheitsfaktoren auf 1:350. Das Gipfeltreffen mit Breschnjew in Washington hatte die Gefahrenmomente eines Konflikts, selbst unter dem Gesichtspunkt des ›Falles Leerlauf‹, so weit vermindert, dass das Szenario nach Meinung der meisten an den Modellspielen beteiligten Psychologen fast illusorisch geworden war. Fast, aber nicht ganz. Dann kam der Heilige Krieg, und die amerikanische Reaktion darauf ließ die Wahrscheinlichkeitsfaktoren wild emporschießen. Erst die Bemühungen Henry Kissingers sorgten für eine gewisse Beruhigung. Die Unterzeichnung des Zypernabkommens und die Errichtung einer Friedenszone am 34. Meridian – eine Wendung, die jeder politische Laie dahin gedeutet hätte, dass die Unsicherheitsfaktoren nun nahezu gleich Null wären – hatten in Wahrheit dem ›Fall Leerlauf‹ neuerliche Aktualität verliehen. Die Begründung dafür: Jetzt standen sich sowjetische und amerikanische Einheiten – die Kontingente der Friedenstruppe – an jener Trennungslinie gegenüber. (Für die Zwecke des Planspiels neigten die Experten dazu, die entmilitarisierte Zone und die UN-Präsenz zu ignorieren.)
    Der psychologische Chefberater des Admirals, ein gewisser Dr. Emmett Brown, wäre kein Mitglied des persönlichen Braintrust gewesen, hätte er nicht weitgehend Ainsworth' stets wachen Argwohn gegen die Kommunisten geteilt. Deshalb fiel Dr. Browns Interpretation des ›Falles Leerlauf‹ unter den neuesten Aspekten entsprechend düster aus. Er bezifferte die Quote der akuten Konfliktmöglichkeiten bestürzend hoch.
    Nun saß der Admiral allein in der Konferenzkabine des riesigen Flugzeugs und brütete über die schwere Verantwortung nach, die, wie es schien, auf seine Schultern geladen würde. General Tates erster Bericht aus Es Schu'uts besagte nur, dass der Vizepräsident zum festgesetzten Termin seiner Zusammenkunft mit Rostow nicht in der Zentralen Zone eingetroffen war. Aber hinter dieser nüchternen Mitteilung zeichnete sich eine gefährliche Entwicklung von unabsehbarer Tragweite ab. Wenn es nicht gelingen sollte, bald den Funkkontakt mit Baileys Gruppe herzustellen, waren die Bedingungen des ›Falles Leerlauf‹ schon fast gegeben.
    Der Präsident lag im Sterben. General Marty, der Militärarzt, hatte keinen Zweifel darüber gelassen. Die Intensivstation des Palm Springs Hospital verfügte zwar über modernste Einrichtungen, und alles wurde aufgeboten, um im hoffnungslos zerstörten Körper des Präsidenten noch einen Funken Leben

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