4 Meister-Psychos
nächsten Sekunde nistete sich das Wort in meinem Gehirn ein und
verdrängte alles andere, jede Grübelei, jeden Zweifel, alles, was ich gelesen,
und alles, woran ich gedacht hatte.
Strontium neunzig.
Ich ergriff die Flaschenkörbe
und ging zur Tür hinaus. Im Keller der Apotheke hantierte Wilhelm, mürrisch und
wachsam, wie am Mittag. Unter albernen Reden packte ich die Flaschen aus und
ging wieder. Ich brauchte sein Zyan nicht mehr. Als ich zum Institut zurückkam,
sah ich Peters’ Wagen davonrollen.
Ich erledigte die restlichen
Arbeiten ohne Hast. Eine große Gelassenheit hatte von mir Besitz ergriffen.
Draußen wurde es inzwischen
dunkel. Ich ließ die Rollos herunter und rückte mir die Schreibtischlampe
Brecht. Dann öffnete ich den Schrank, in dem unsere Wenigen Bücher standen. Ich
fand sofort, was ich suchte.
Die Radioisotope und ihre Anwendung
in der modernen Medizin.
Ein schwarzes, schweres Buch.
Ich hatte schon oft darin
gelesen, absatzweise und unsystematisch. Heute würde es anders sein.
Am Schreibtisch schlug ich das
Inhaltsverzeichnis auf, Mein Finger fuhr die Spalten herunter. Da war es.
Strontium. Seite 352.
Ich las.
Es war ein kurzer Abschnitt.
Das Isotop Strontium 90 entsteht hei der Uranspaltung. Seine Halbwertzeit beträgt 28 Jahre. Es ist
zumeist mit Strontium 85 und Yttrium 90 gemischt.
Strontium 90 ist ein
reiner Betastrahler mit Energie von 0,61 Millionen Elektronenvolt. Alpha- und
Gammastrahlen sendet es nicht aus, ebenso wie Strontium 89 .
Das radioaktive Strontium wird
im Knochen wie Calcium gespeichert, verleiht jenem aber nicht die gleiche
Festigkeit. Es hat die Eigenschaft, im menschlichen Körper selektiv das
Knochengewebe aufzusuchen und das Calcium zu verdrängen Ähnlich dem Radium ist
es ein ausgesprochener »Bone-Seeker «
Dieses Verhalten begrenzt die
therapeutische Anwendungsmöglichkeit des Isotops aufs äußerste. Die harte, lang
andauernde Beta-Strahlung schädigt das Knochengewebe, und vor allem das
erythropoetische System des Knochenmarkes. Klinisch kommt es zu den Symptomen’
der Anämie, Leukopenie und Panmyelophtise. Später können maligne Knochentumoren
entstehen, vor allem infolge der Beimengung von Strontium 89 . Die Toleranzgrenze liegt
bei 0,1 Mikrocurie. Als Trägersubstanzen kommen die löslichen Salze
Strontiumsulfat und Strontiumnitrat in Betracht.
Ich lehnte mich zurück, suchte
nach einer Zigarette und zündete sie an. Strontium neunzig. Halbwertzeit 28
Jahre. Das bedeutete, daß die strahlende Energie nach achtundzwanzig Jahren
erst um die Hälfte abgefallen war. Zehn Halbwertzeiten rechnete man, bis ein
Isotop nicht mehr strahlte.
Reine, bösartige Beta-Strahlen.
Eine halbe Million Elektronenvolt. Und dann ein Bone-Seeker, ein Knochensucher.
Es lagerte sich im Knochen ab und blieb dort, unabänderlich. Es bestrahlte das
Knochenmark, jeden Tag, jede Sekunde. Schwund der roten, Schwund der weißen
Blutkörperchen. Schließlich völliges Versagen des Knochenmarkes. Ich hatte
solche Patienten gesehen. Und der Knochenkrebs kam noch hinterher.
Kein schöner Tod.
Trägersubstanz Strontiumsulfat.
Unser Präparat im Strahlenschutzschrank. Trägersubstanz bedeutete, daß das strahlende
Isotop einem inaktiven, nichtstrahlenden Element beigemischt war, in diesem
Fall dem Schwefelsalz des Strontiums.
Ich drückte meine Zigarette aus
und öffnete das rechte Abteil des Schreibtisches.
Ich nahm die Mappe heraus, in
der die Durchschläge unserer Bestellungen von Isotopen abgeheftet waren.
Die Blätter raschelten unter
meinen Fingern. Nichts von Strontium dabei.
Ich ging zum Schrank und kramte
in den alten Heften herum, bis ich den vom vorigen Halbjahr fand. Es konnte
Sein, daß das Zeug schon ein paar Jahre herumstand.
Alte vergilbte Bestellungen.
Jod, Phosphor, Gold, Meder Jod. Kein Strontium.
Ich ging noch eine Mappe
zurück. Dann fand ich es. Ganz am Anfang des letzten Jahres.
Chemische Werke Spottler
& Co.
Isotopenabteilung
20 Millicurie Strontium 90 .
Menge 20 ccm.
Spezifische Aktivität 1 mC/ccm.
Träger Substanz Strontiumsulfat.
Liefertermin: 12.1.1961.
20 Millicurie in 20
Kubikzentimeter Flüssigkeit.
Ein Tausendstel Curie in einem
Kubikzentimeter.
Ein Curie, die Energieeinheit
der radioaktiven Isotope, hat tausend Millicurie. Ein Millicurie hat tausend
Mikrocurie. Und 0,1 Mikrocurie gilt als ungefährlich für den Menschen, also die
Dosis, die er ohne Schaden vertragen kann — der zehnte Teil eines
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