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4 - Wächter der Ewigkeit

4 - Wächter der Ewigkeit

Titel: 4 - Wächter der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Zigarette an. Mit einem Blick auf Andrej, seinen erklärten Liebling, sagte er: »Hast du Deniskas Geschichten gelesen?«
    »Hmm«, brummte der Junge. Er war eine Leseratte, ein belesener Junge aus guter Familie.
    »Was können wir sagen, wenn wir an die Erzählung ›Der Hut des Großmeisters‹ denken?«
    »Dass der kleine Denis Korabljow in einer sehr vornehmen Gegend lebte«, antwortete der Junge.
    Die Praktikantin lachte prustend los. Sie hatte zwar Deniskas Geschichten nicht gelesen, dafür aber irgendwann die Verfilmung im Fernsehen gesehen – und diese erfolgreich vergessen. Dennoch entging ihr die Ironie der Antwort nicht.
    »Und was sonst noch?«, fragte der Lehrer mit einem Lächeln. Er rauchte niemals im Gehen, weil er in einem Modejournal gelesen hatte, das wirke nicht würdevoll. Jetzt brachte ihn jeder Zug dem Tod ein Stück näher – womit das Nikotin nicht das Geringste zu tun hatte.
    Der Junge dachte nach. Die junge Magierin gefiel ihm ebenso wie das halbbewusste Wissen, ihr intellektuell überlegen zu sein.
    »Außerdem können wir noch festhalten, dass Großmeister sehr unaufmerksame Menschen sind. Der Wind hat ihm seinen Hut weggerissen, aber er hat es nicht einmal bemerkt.«
    »Das könnte sein«, pflichtete der Lehrer ihm bei. »Aber wir Anderen sollten folgende Moral aus dieser Geschichte ziehen: Man sollte sich nicht in die kleinen Probleme der Menschen einmischen. Entweder missverstehen uns die Menschen, oder sie lassen ihre Aggression an uns aus.«
    »Aber Deniska hat sich doch mit dem Großmeister ausgesöhnt. Als er ihm eine Schachpartie vorgeschlagen hat.«
    »Das ist ein weiterer kluger Gedanke!«, lobte der Lehrer. »Um die Beziehungen mit einem Menschen zu klären, ist keinerlei Magie nötig. Man muss noch nicht mal versuchen, ihm zu helfen. Viel wichtiger ist, mit einem Menschen ein Hobby zuteilen!«
    Alle hörten dem Lehrer aufmerksam zu. Er liebte es, Märchen oder Kinderbücher zur Illustration heranzuziehen und aus ihnen eine Vielzahl erstaunlicher Analogien abzuleiten. Das machte den Schülern immer Spaß.
    Einen halben Kilometer von ihnen entfernt ging der ehemalige Fahrgast inzwischen die Mjasnizkaja entlang. An einem Zeitungskiosk blieb er stehen. Er suchte in seiner Tasche nach Kleingeld und kaufte sich die Komsomalskaja Prawda.
    Der Lehrer sah sich suchend nach einem Mülleimer um. Der war weit weg. Schon wollte er seine Kippe zur Freude der Schwäne in den Teich werfen, da fing er Andrejs Blick auf und ließ von dem Vorhaben ab. Schlimm, schlimm: Seit drei Jahren lebte er nun als Lichter – aber die kleinen Gemeinheiten der Menschen konnte er sich einfach nicht abgewöhnen … Entschlossenen Schrittes stapfte der Lehrer zum Mülleimer, warf seine Kippe hinein und kehrte zu seinen Praktikanten zurück.
    »Gehen wir weiter! Und halten wir die Augen offen, gucken, beobachten!«
    Jetzt gab es praktisch keine Möglichkeit mehr, seinem Tod zu entrinnen.
    Der ältere Herr mit der Zeitung in der Hand lief zur Metrostation Tschistyje prudy. Er zögerte, ob er hinuntergehen sollte. Einerseits hatte er es eilig. Andererseits … der Tag war so schön. Der blaue Himmel, der warme Wind … ein Tag, an der Grenze zwischen Sommer und Herbst, die Saison für Romantiker und Poeten.
    Gemütlich schlenderte der Mann zum See, setzte sich auf eine Bank und schlug die Zeitung auf. Seiner Jacketttasche entnahm er eine kleine Flasche, aus der er einen Schluck trank. Ein an ihm vorbeischlurfender Obdachloser mit einer prallen Tüte voller leerer Flaschen starrte den Mann an, der sich nach dem Schluck langsam über die Lippen leckte. Ohne sich die geringste Hoffnung zu machen, setzte sich der Penner neben ihn, denn es fehlte ihm die Kraft, von seiner ewigen Bettelei zu lassen.
    »Krieg ich ‘n Schlückchen, Bruder?«
    »Das wird dir nicht schmecken«, erwiderte der Mann. Ohne jede Bosheit oder Verärgerung. Er teilte es einfach mit.
    Der Obdachlose zuckelte weiter. Noch drei leere Flaschen, und er könnte sich eine volle kaufen. Einen Dewjatotschka, diesen kräftigen, süßlichen, aromatischen Wein. Wie ihn das alles ankotzte. Die verdammten Bourgeois, die Zeitung lasen, während einen der fürchterlichste Kater plagte …
    Genau an diesem Tag ging die Leberzirrhose des Obdachlosen in Krebs über. Ihm blieben weniger als drei Monate. Doch für die Geschehnisse am Boulevard hatte das keinerlei Bedeutung.
    »Der Mann mit der Tüte ist ein normaler Mensch«, konstatierte die Praktikantin.

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