40 - Im fernen Westen
seine Bemühungen bedeutend erschwerte, griff er sich doch Hand um Hand stetig und gleichmäßig vorwärts, als habe er auf dem Turnplatz eine Seilübung vorzunehmen. So kam er näher und immer näher, und als er jetzt das Angesicht nach oben kehrte, um die noch zurücklegende Entfernung abzumessen, erkannte sie ihn.
„Emil, mein Gott, es ist Winter! Wir müssen ihn retten, Professor, sonst ist er verloren.“ Abermals machte sie Miene, zuzugreifen, und die gräßlichste Angst prägte sich in ihrem Angesicht aus. Aber mit einer gebieterischen Handbewegung hielt der Aeronaut sie zurück.
„Sie wissen, Fräulein, daß dem Kapitän eines Schiffes der unbedingteste Gehorsam zu leisten ist, und dieses Gebot findet auch hier bei uns strenge Anwendung. Ich bin es, auf dem alle Verantwortlichkeit ruht, und ich muß am besten wissen, was zu tun ist.“
„Nun gut; dann muß ich gehorchen; aber ich werde Sie zur Rechenschaft ziehen!“
„Die ich sehr leicht ablegen kann. Wir können nichts tun, wenn er nicht selbst sich rettet.“
Winter hatte sich jetzt das Seil um die Beine geschlungen und ruhte in halb sitzender, halb hängender Stellung aus. Als er bemerkte, daß Wandas Auge auf ihn gerichtet war, ließ er mit der Rechten los, um einen grüßenden Wink zu geben, und das sorglose Lächeln, welches dabei in seinen Zügen lag, überzeugte sie, daß sie seiner Kraft vertrauen könne. Seine bald fortgesetzten Bewegungen waren so frisch, als ob er sie erst jetzt beginne, und in wenigen Augenblicken befand er sich an der Gondel.
„Tretet auf die andere Seite, sonst geht das Gleichgewicht verloren!“ rief er und befand sich einige Sekunden später im Inneren des Geflechts.
Nie in ihrem Leben hatte Wanda eine Angst, wie die soeben gehabte, ausgestanden. Als sie den Cousin in so entsetzlicher Lage erblickte, war ihr die Liebe zu ihm in ihrer ganzen, bisher noch nicht bekannten Größe ins Bewußtsein getreten, und jede Fiber ihres Inneren hatte gebebt bei dem Gedanken an seinen Verlust, an welchem sie selbst mit ihrem harten, unerweichbaren Sinn die Schuld trug. Aber als er sich jetzt munter hereinschwang, löste sich die Angst in einen Schrei der Freude auf, und sie konnte nicht anders, sie mußte die Arme um ihn schlingen und ihr Köpfchen fest, fest an seine tiefatmende Brust legen.
„Emil, mein lieber, lieber Emil!“ flüsterte sie leise, mit tränendem Auge zu ihm aufblickend. „Hat dich das Seil aus dem Wagen gerissen?“
„Nein, Wanda“, entgegnete er ebenso leise. „Ich komme freiwillig, um in einer dir wahrscheinlich drohenden Gefahr bei dir zu sein.“
„Du hast geglaubt, ich werde hier oben doch noch Angst bekommen?“
„Nein, das ist es nicht. Es wird sich zeigen.“ Er ließ sie auf den Sitz nieder und wandte sich dann an die beiden anderen.
„Ihr Diener, meine Herren! Ich hoffe, Herr Professor, Sie werden mich nicht fortweisen, da ich wirklich nicht wüßte, an welcher Stelle ich wieder abspringen könnte.“
„Gratulieren Sie sich ob des ungeheuren Glücks, welches Sie haben. Nächst diesem haben Sie Ihre Rettung dem Umstand zu verdanken, daß ich Sie Ihrer eigenen Anstrengung überließ.“
„Unsere Meinungen stimmen sehr überein; denn ich habe mich gleich anfangs auf nichts anderes verlassen. Doch bitte, lassen Sie sich durch meine unerwartete Anwesenheit in den notwendigen Beobachtungen nicht stören. Sie haben Ihre Wetten zu gewinnen.“
„Allerdings“, antwortete der Professor und richtete das Fernrohr nach unten. Noch konnte er jede Einzelheit der Gegend unterscheiden, und also ebenso deutlich mußte man von der Erde aus auch ihn beobachten können. Es war notwendig, zu steigen und dann eine andere Richtung einzuschlagen. Deshalb nahm er aus dem unteren Raum ein Säckchen mit Sand hervor und schickte sich an, dasselbe zu öffnen.
„Sie wollen noch höher steigen?“ fragte Winter.
„Allerdings.“
„Sie erlauben, daß ich dies nicht für notwendig halte. Der Zweck dieser Fahrt ist eine bloße Luftpartie nach einem bestimmten Ort der unter uns liegenden Gegend, nicht aber eine wissenschaftliche Beobachtung in den oberen Regionen.“
„Da haben Sie sehr recht; aber über die Art und Weise, wie dieser Weg am sichersten und schnellsten zu erreichen ist, steht mir als Fachmann wohl das maßgebende Urteil zu. Wir befinden uns jetzt mitten in dem Grenzgebiet zweier entgegengesetzter Luftströmungen und müssen uns bis in die Mitte der günstigeren erheben.“
Er wußte sehr
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