434 Tage
Fluchtinstinkt in mir hoch. Seine Körpersprache, sein Parfum und dieses Lächeln in seinen Augen springen emsig in meiner Magengrube auf und ab wie auf einer Hüpfburg. Ich kann nicht fassen, dass er diesen Duft trägt. Und ich könnte schwören, dass es gestern noch ein anderer war. Genau wie damals schlängelt er sich genüsslich in meine Nase, direkt in mein Stammhirn. Ich sollte nicht hier sein. Wie kann ich mit ihm zu Abend essen? Was würde Tobias davon halten? Ja, was würde ich denn davon halten, wenn Tobias mit Claudia essen würde? Ich stelle sie mir gemeinsam vor. Ich sehe Kerzenlicht, romantische Musik, eine langstielige rote Rose in einer schmalen Vase. Und ich hasse diese Vorstellung.
Gerade, als ich mit dem Gedanken spiele, aufzustehen und mich höflich zu entschuldigen, kommt der Kellner und bringt das Essen.
„Auf dass es frisch ist...“, sagt Julian und hebt grinsend sein Wasserglas. Wie kann er nur so grinsen? Ich lächle verhalten und hebe auch meines. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Wieso habe ich mir nicht einfach etwas in mein Zimmer bringen lassen?
Nachdem ich einen Schluck getrunken habe, puste ich die Kerze aus und greife nach meiner Gabel. „Guten Appetit.“, sage ich ohne aufzuschauen und fange an zu essen. Je schneller ich fertig bin, desto schneller kann ich gehen.
„Guten.“ Und auch, wenn ich sein Gesicht nicht sehe, höre ich in seiner Stimme, dass er innerlich darüber lacht, dass ich die Kerze ausgeblasen habe. Das Problem ist, dass Julian genau weiß, weswegen. Wir sind eine ältere, und ich würde behaupten, vielleicht etwas weisere Version von uns mit siebzehn oder achtzehn. Damals gingen wir zur Schule, jetzt gehen wir arbeiten. Sonst hat sich nichts geändert. Außer, dass ich verheiratet bin. Das hatte ich vergessen.
…
„Ich dachte, du wolltest Journalismus studieren.“
„Ja, das wollte ich, aber mein Durchschnitt, war nicht gut genug.“
„Das ist doch echt ein beschissenes System.“ Er sticht in die letzte Bandnudel. „Ich meine, da haben junge Leute Interessen und dann hält man sie wegen irgendeinem Notendurchschnitt, der sich überwiegend aus Fächern zusammensetzt, die man sich nicht aussuchen konnte und die nichts mit dem zu tun haben, was man studieren will, davon ab, das zu tun, was sie wollen. Ist doch idiotisch.“
Das mochte ich immer an Julian. Diese Art zu diskutieren. Er konnte sich schon immer in Themen hineinsteigern. „Wie auch immer, damals hatte ich auch das Gefühl, dass es nicht verkehrt ist, etwas Handfestes zu studieren.“
„Im Gegensatz zu einer weichen Wissenschaft? “ Er tupft sich mit einer weißen Stoffserviette über die Lippen.
„So ungefähr, ja.“
„Ich hätte das damals nicht sagen sollen.“
„Na ja, wenn man es genau nimmt, hattest du ja recht.“
„Wenn du sagst, du hattest damals das Gefühl, klingt das irgendwie so, als würdest du es jetzt bereuen.“
„Bereuen ist nicht das richtige Wort“, antworte ich und schenke mir etwas Wasser nach. Ich schaue zu Julians Glas hinüber, doch es ist noch voll. „Ich würde mich vielleicht heute anders entscheiden.“
„Dann tu es doch. Entscheide dich anders.“
„Wie bitte?“, frage ich perplex.
„Menschen tun es andauernd. Sie ändern ihr Leben, sie schulen um.“
„Ach, und wie viele kennst du, die das tatsächlich gemacht haben?“ Ich schiebe den Teller an den Tischrand. „Und ich meine nicht Leute, von denen du gehört hast, dass sie jemanden kennen, der das gemacht hat. Ich meine Leute, die du tatsächlich kennst.“
„Ich zum Beispiel?“
„Was? Wann?“
„Ich habe das Praktikum nach knapp drei Monaten geschmissen und das Jura-Studium kurz darauf abgebrochen.“ Er lächelt mich an. Und ich weiß, dass er meinen erstarrten Gesichtsausdruck genießt.
Ich kann es nicht fassen. Und dann ist da plötzlich zum ersten Mal seit Jahren wieder die Frage, was gewesen wäre, wenn er damals nicht in diesen Flieger gestiegen wäre. Was, wenn er sich gleich für mich entscheiden hätte? Oder wenn ich es nicht beendet hätte? Er wäre zurückgekommen. Und vielleicht wären wir wirklich zusammen geblieben. „Ich habe immer gesagt, dass Jura nicht zu dir passt.“, überspiele ich meine Gedanken.
„Ja, ich weiß.“ Julian winkt den Kellner zu uns und bestellt noch eine Flasche Wasser. „Na, jedenfalls weiß ich aus erster Hand, dass man sich immer umentscheiden kann.“
„Ja, aber ich kann doch jetzt nicht noch mal studieren.“
„Und
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