434 Tage
ist. Ich wäre zu flatterhaft, ein Träumer. Ich hätte doch ohnehin keine Ahnung von Recht. Im Nachhinein betrachtet, stimmt das wahrscheinlich. Als du dann auch noch meintest, Jura wäre nichts für mich, hast du genau das gesagt, was ich nicht hören wollte. Und an jenem Abend habe ich beschlossen, es allen zu beweisen. Vor allem mir selbst (was ich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht begriffen hatte). Ich wollte, dass mein Vater seine Hand auf meine Schulter legt und mir sagt, dass er stolz auf mich ist. Und irgendwie dachte ich, das würde er nur dann tun, wenn ich Jura studiere und unabhängig werde. Jetzt wird mir langsam klar, dass ich so werden müsste wie er, damit er mich endlich sieht (was ja irgendwie ein Widerspruch in sich ist).
Als ich hier angekommen bin, habe ich dann realisiert, dass ich gar nicht meinen Traum lebe, sondern seinen. Die Wahrheit ist, dass mein Vater mich gar nicht kennt. Als mir das klar geworden ist, habe ich versucht, dich zu erreichen. Ich wollte mit dir reden, ich wollte dir sagen, dass es ein Fehler war, zu gehen. Oder vielleicht war es auch ein Fehler, dich nicht zu bitten, mit mir zu kommen. Aber du bist nicht ans Telefon gegangen. Und da wusste ich es. Ich wollte es nicht sehen und ich wollte, dass ich mich irre, aber ich hatte ein ganz ungutes Gefühl. Vier Tage habe ich mir eingeredet, dass schon nichts sein wird. Und dann kam heute dein Brief. Abgestempelt am Tag meiner Abreise.
Du hast mich zum Flughafen gefahren, obwohl du wusstest, dass du mich verlassen wirst. Du hat gelächelt und mich geküsst. Du hast gesagt, dass du mich liebst. Was ist das für eine Liebe? Wie konntest du das sagen und am selben Tag diesen Brief abschicken? Einen Brief, der dein Bild von mir zeigt. Und das ist ein Bild, das mich wirklich erschüttert hat. Ich frage mich, wie du mit mir zusammen sein konntest, wenn du mich so siehst. Und ich frage mich, ob ich es hätte merken müssen, oder ob du etwas hättest sagen sollen. Vielleicht hätten wir einen Weg finden können, der für uns beide passt. Die Wahrheit ist, dass ich denke, dass du meinen eine Weile ganz gerne mitgegangen bist, weil du deinen eigenen nicht finden konntest. Aber es ist natürlich am einfachsten, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben. Wenn alles mein Fehler war, musst du nichts ändern. Und das passt zu dir. Die Welt ist gemein, nicht du. In deiner Welt bist du all der Ungerechtigkeit hilflos ausgeliefert. Diese Welt existiert aber nur in deinem Kopf. Und es würde dir gut tun, wenn du nicht immer die Verantwortung an andere abgeben würdest. Aber soweit bist du noch nicht. Und vielleicht wirst du es nie sein. Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich sogar diese Naivität an dir geliebt. Sicher nicht immer, aber oft. Möglicherweise wirst du irgendwann zurück blicken und sehen, dass du uns kaputt gemacht hast. Du hättest mir sagen müssen, was es für dich bedeutet, wenn ich gehe. Du hättest mir eine Chance geben müssen. Ich konnte nicht wissen, dass mich selbst zu finden, bedeuten würde, dich zu verlieren. Und Fakt ist, dass ich dachte, dieses Jahr hier zu brauchen, um herauszufinden wer ich bin und um zu verstehen, dass ich es alleine schaffen kann – auch, wenn das nicht so richtig geklappt hat.
Ist es meine Schuld, dass du deine Träume lieber träumst? Kann ich etwas dafür, dass dir der Mut fehlt? Du hast einmal gesagt, dass du das Gefühl hast, das Leben zieht einfach an dir vorbei und ich denke, du hast recht. Daran ist aber nicht das Leben schuld. Du bist es. Du wartest immer darauf, dass das Leben dir einen Schubs in die richtige Richtung gibt. Aber das Leben hat nicht auf dich gewartet, Anja. Wenn man es genau nimmt, bist du dem Leben völlig egal. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass du endlich kapierst, dass es deine Verantwortung ist, endlich zu entscheiden, wer du sein willst. Und dass du begreifst, dass Freiheit bedeutet, sich entscheiden zu können. Ich habe bei dir manchmal das Gefühl, dass du dich nicht entscheiden kannst, weil du dich mit jeder Entscheidung gegen alles andere entscheiden müsstest. Und deswegen tust du lieber gar nichts. So als wäre dieses Leben die Generalprobe für das nächste, in dem du dann alles anders machen willst. Wir haben eine völlig unterschiedliche Lebensauffassung. Und wenn ich ehrlich bin, finde ich meine besser, auch, wenn ich damit schon oft auf die Schnauze gefallen bin. Ich gehe Risiken ein und lebe. Und das mit jeder Faser meines Körpers. Und du, du lebst
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