434 Tage
improvisiere ich.
„Ich hätte dich gern noch gesehen.“ Er räuspert sich. „Kommst du später?“
„Ich denke schon, ja...“, sage ich vage. „Wenn nicht heute, dann morgen.“
„Was spricht gegen heute?“ Und da ist es, das Misstrauen. Aber was habe ich mir auch erwartet? Natürlich ist er misstrauisch. Im Grunde kann ich mich freuen, dass er überhaupt noch mit mir spricht.
„Ich treffe heute vielleicht meine Mutter“, sage ich schließlich.
„Sie ist in der Stadt?“
„Sie ist gerade bei einer Freundin in Augsburg.“
„Und wann trefft ihr euch?“
„Du, das kann ich dir nicht genau sagen, sie meinte nur, sie ruft mich am späten Nachmittag an.“ Er denkt ich lüge. Wenn ich er wäre, würde ich das auch denken. Nur ist es dieses Mal tatsächlich die Wahrheit. „Ich kann dich später anrufen, wenn du willst.“
„Ja, mach’ das“, er klingt enttäuscht. „Es wäre wirklich schön, wenn wir uns noch sehen könnten, ich fliege doch heute Abend nach London.“
London. Richtig. Da war etwas. „Ach ja, natürlich“, sage ich und seufze. „Ich melde mich, sobald ich etwas weiß.“
„Ist gut. Dann bis später.“ Ich werfe das Handy in meine Tasche, dann greife ich nach dem Brief.
Liebe Anja,
ich habe es ihr gesagt. Und sie hat geweint. Und bei jeder Träne, die über ihre Wangen gelaufen ist, habe ich mich ein bisschen mehr gehasst. Das ändert nichts daran, dass es richtig war, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie ist ohne ein Wort gegangen und ich wusste, dass ich sie nie wieder sehen werde. Eben war sie noch ein Kernbestandteil meines Lebens und plötzlich ist sie weg. Und ich habe das so entschieden. Ich wollte sie behalten, aber eben nur als jemanden, der mich liebt und von dem es mich ehrt, geliebt zu werden. So sehr sogar, dass ich wirklich dachte, diese Liebe zu erwidern.
Claire ist wunderbar. Sie ist intelligent und hat Humor, sie ist lebendig und aufregend. Und sie ist schön. Ich liebe es, wie ihr kinnlanges schwarzes Haar in der Sonne glänzt. Und ihre schwarzen Augen. Aber sie ist nicht du. Sie ist nicht so lustig, nicht so intelligent und nicht so schön wie du. Sie ist eben Claire. Und für jemand anderen wird das reichen. Für jemand anderen wird sie das sein, was du für mich bist. Für mich wäre sie nur eine angenehme Notlösung.
Die vergangenen zwei Wochen habe ich nur gegrübelt. Ich habe mich gefragt, wie viel Sinn es macht, mein Leben hier aufzugeben, nur um dann ins Ungewisse zu steuern. Hier bin ich jemand. Ich habe mir einen Ruf aufgebaut, Kontakte geknüpft. Sicher, ich könnte das auch in München, aber ich weiß nicht, ob München mir gut tut. Es ist, als hätten München und ich eine lange Beziehung gehabt, die wirklich schlecht auseinander gegangen ist. Wir haben uns geliebt, aber es hat nicht funktioniert. Vielleicht hat das aber auch nichts mit München zu tun.
Ich weiß einfach nicht, ob es der richtige Weg für mich ist, dort anzuknüpfen, wo ich vor drei Jahren war. Brauche ich das, weil ich nicht wirklich mit dir abgeschlossen habe? Vielleicht habe ich nämlich einfach nur verdrängt und mich in ein neues Leben gestürzt. Ein Leben, das nichts mit dir zu tun hat.
Andererseits scheint es so, als gäbe es kein Leben, das nichts mit dir zu tun hat. Nach außen hin schon, klar, aber was hat es mit diesen albernen Briefen auf sich? Alles, was wichtig ist, bringt mich auf die eine oder andere Art wieder zu dir. Oder zumindest zu dem Bild von dir, das ich noch immer im Kopf habe.
Irgendwie scheine ich zum ersten Mal zu verstehen, was du mit deinem Dämon gemeint hast. Mein Dämon bist du. Und jedes Mal, wenn ich denke, dass ich dich endgültig hinter mir gelassen habe, dann passiert etwas, und du wachst wieder auf. Und das ist jedes Mal so heftig, dass es mich absolut überrumpelt. In diesen Augenblicken überrascht es mich dann, wie erfolgreich ich dich verdränge. Und das jeden Tag.
Im Grunde weiß ich, was ich zu tun habe, ich habe nur keine Lust auf diesen Weg, denn es ist ein Weg zurück. Ein Weg in die Vergangenheit. Und ich liebe New York. Diese Stadt ist wie ein riesiger Organismus, wie ein immenses Lebewesen mit einem rauen aber liebenswerten Charakter. Kantiger Charme und quirliges Leben. Sie ist laut und aufbrausend und umwerfend schön. Sie ist wie du.
Es sind weitere zwei Wochen vergangen und ich stehe in einer leeren Wohnung. Sie hat einmal mir gehört. Sie war ein Zuhause. Jetzt sind es nur noch vier Wände ohne Geschichte. Schon
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