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434 Tage

434 Tage

Titel: 434 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Freytag
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lesbisch gehalten. Wahrscheinlich dachte sie, ich komme ihretwegen hierher. „Ich heiße Anja.“
    „Tobias, freut mich.“ Er nimmt einen Schluck Kaffee. „Es freut mich auch, dass du dir die Zeit nehmen konntest.“
    „Das Projekt ist gelaufen“, sage ich und schütte den Espresso in einem Sitz hinter, damit ich nicht schmecke, wie bitter er ist. „Ich habe jetzt erst einmal nicht so viel zu tun.“
    „Wenn das so ist, hast du vielleicht Lust auf Kino und etwas zu Essen?“
    „Kino und Essen?“ Die alte Schule. Kino und Essen. Also in meine Welt übersetzt, bedeutet das Sex. Erst wird der Gaumen bezirzt und die Geschmacksknospen stimuliert, dann geht man über in die Dunkelheit. Bei Sexszenen sind beide peinlich berührt und doch erregt und nach dem Film geht der eine dann auf den berühmten Kaffee zum jeweils anderen. Nur, dass man diesen Kaffee nie bekommt.
    „Vielleicht doch lieber nur essen?“ Er schiebt die Brille ein Stück weiter nach oben. Das tut er dauernd.
    „Und wo?“, frage ich um Zeit zu gewinnen, obwohl es mir eigentlich völlig egal ist. Will ich mit ihm essen? Oder anders gefragt, will ich mit ihm schlafen? Denn das mit dem Essen ist kein Problem. Dann essen wir eben.
    „Ich würde etwas kochen.“
    „Du meinst bei dir?“, frage ich etwas zu perplex. „Du lädst mich zu dir nach Hause ein?“
    „Ist vielleicht eine blöde Idee, ich kenne auch einen guten Italiener.“
    Verdammt noch mal Anja, jetzt werd doch mal locker. Du musst ihn ja nicht heiraten. Wenn der Abend scheiße sein sollte, kannst du immer noch Sehstörungen bekommen und abhauen. Und da das Projekt in trockenen Tüchern ist, musst du ihn auch nie wieder sehen, wenn du nicht willst. „Okay, dann bei dir.“ Er wirkt erstaunt. „Und wann?“
    „Ähm, wann immer du willst.“
    „Morgen Abend?“
    „Ja, sicher, gern.“ Er nimmt wieder einen Schluck Kaffee. „Was isst du gerne?“
    „Das ist mir egal“, sage ich lächelnd. „Aber bitte nichts zu Exotisches.“
    Als wir uns drei Stunden später verabschieden, geht es mir gut. Und nicht nur so ein bisschen gut, sondern richtig gut. Er tut mir gut. Seine entspannte Art und sein ruhiges Wesen sind wie ein kurzer Urlaub. Es sind viele kleine Dinge, die Tobias besonders machen. Es sind überhaupt immer die Kleinigkeiten.
    …
    Ich sitze in meinem Büro und denke an Julian. Und dann denke ich an Tobias und die vielen kleinen Dinge, die ich an ihm mag. Kleinigkeiten eben. Die meisten bemerken sie gar nicht. Alle wollen sie immer die großen Gesten. Tiffany-Ringe mit faustgroßen Diamanten, Heiratsanträge zum Angeben, riesige Blumensträuße mit roten langstieligen Rosen mit üppigen Köpfen, die ein Blumenlieferant in die Arbeit schleppt, damit alle sehen, wie echtes Glück aussieht. Blumenbouquets, die sie daran erinnern, was sie nicht haben – nämlich das Leben mit den großen Gesten. Die wenigsten werden sie erleben. Deswegen sind es ja auch die großen Gesten. Wären große Gesten die Regel, dann wären sie weder groß noch Gesten. Dann wären sie einfach normal und damit automatisch nichts Besonderes.
    Und weil jeder etwas Besonderes sein will, warten wir alle auf den Menschen mit den großen Gesten. Auf den Menschen, der endlich erkennt, dass wir diese großen Gesten wert sind. Und wozu führt das? Zu einem Haufen unglücklicher Menschen, die irgendwann einmal tatsächlich angefangen haben, daran zu glauben, dass Filme von der Realität inspiriert wurden. Im Grunde ist das ja auch richtig, aber eben nicht so, wie viele sich das wünschen. In Wahrheit ist die Realität meistens dermaßen schmucklos und eintönig, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis bei manch einem die Fantasie durchgehen musste. Sie fingen an Geschichten aufzuschreiben, in denen Männer das Richtige sagten und das Richtige taten und die richtigen Ringe kauften und üppige Rosenbouquets verschenkten. Geschichten, in denen die Herkunft und der Intellekt keine Barriere waren und in denen diejenigen einander fanden, die sich liebten und nicht die, die einander bei der Geburt versprochen wurden. Erst waren es nur Gedichte, dann Romane, und etwas später kam die Musik dazu. Schmachtende Texte, triefend vor Liebe und Zuneigung und Leidenschaft. Und noch später kam der Film. Da sah man dann schwarz auf weiß, wie das Leben sein sollte. Lauter wunderschöne Menschen, die sich lieben und sich das mit allerhand großer Gesten immer wieder aufs Neue beweisen. Daran hat sich nicht viel geändert, auch,

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