47 Ronin: Der Roman zum Film (German Edition)
auszulassen – immer zwei auf einmal –, bis er ihn aus seiner Seele vertrieben hatte.
Mitsuke kehrte langsam zurück in ihre Gemächer. Sie war besorgt. Draußen war wieder das Aufeinanderprallen der
bokken
zu hören. Sie hatte gehofft, dass sich seine Laune im selben Maße wie seine körperlichen Fähigkeiten steigern würde, doch nach allem, was sie bisher gesehen hatte, schien mehr Macht seine Seele nur noch mehr zu korrumpieren.
Nun, sie konnte ihre Zauber jederzeit zurücknehmen, wenn er sie verriet
. Dafür hatte sie gesorgt. Sie hatte nicht so lange überlebt, bis sogar ihr Fell weiß wurde, indem sie sich wie ein dummes Zicklein in der ersten Brunst verhielt.
Die Ronin hielten ihre Pferde am Rand des riesigen Walds an, der das »Meer der Bäume« genannt wurde. Noch öfter allerdings wurde er, nicht ohne Grund,
tengu
-Wald genannt. Sie saßen da und starrten schweigend auf das Schattenland des urtümlichen Waldes. Selbst Kai machte keine Anstalten, sich wieder in Bewegung zu setzen.
»Meine Großmutter hat mir immer Geschichten über diesen Ort erzählt, wenn sie mir Angst machen wollte«, sagte Bashō schließlich und brach das Schweigen. »Es hat immer gewirkt«, fügte er hinzu. Er sah zu Yasuno hinüber, der wie immer damit zu kämpfen hatte, sein von seiner eigenen Unruhe angestecktes Pferd im Zaum zu halten. Bashō machte eine höfliche Geste. »Nach dir«, sagte er und grinste.
Yasuno warf ihm einen wütenden Blick zu und trieb sein Pferd an.
Das Halbblut folgte Yasuno mit einem eher resignierten als verärgerten Gesichtsausdruck.
Oishi folgte ihnen ebenfalls und führte den Rest der Männer in den Wald. Hinter ihnen wurde das Tageslicht schnell schwächer.
Je weiter sie in den Wald hineinritten, desto unmöglicher wurde es allen außer Kai, die Richtung zu bestimmen. Sie hätten nicht einmal den Weg zurück ins Freie gefunden. Sogar Yasuno war schnell zurückgefallen und hatte Kai die Führung überlassen, als dieser an ihm vorbeiritt und sofort die Richtung änderte, die sie eingeschlagen hatten.
Es gab keine Spuren, nicht einmal eine schwache Tierfährte im Unterholz. Nur weil es stetig bergauf ging, wussten sie, dass sie nicht im Kreis ritten. Ihre Pferde durften wegen des unvorhersehbaren Weges nur im Schritt gehen. Aber selbst die Steigung war keine Garantie dafür, dass sie sich auf dem richtigen Weg zu den
tengu
befanden. Jetzt endlich verstand Oishi, warum Fürst Asano die Instinkte seines obersten Fährtenlesers so geschätzt hatte.
Der Morgennebel, der über dem
tengu
-Wald gehangen hatte, als sie sich näherten, löste sich auch im Laufe des Tages nicht auf. Stattdessen schien er noch dichter zu werden, als wäre er eine Manifestation des Ortes selbst – eine Ausdünstung der uralten, hochgewachsenen Bäume, deren dichtes Geäst den Blick auf den Himmel vollkommen versperrte. Ihre riesigen Baumstämme waren mit Moos und Pilzen überzogen und das einzige Geräusch war das beständige, langsame Tropfen kondensierter Flüssigkeit von den Blättern und Nadeln.
Sonst hörten die Männer fast nichts, außer dem gelegentlichen
Klack
, wenn ein Pferd mit dem Huf einen Stein streifte. Falls hier normale Kreaturen hausten, hielten diese ihr Eindringen in den Frieden des Waldes scheinbar für unnatürlich und warteten geräuschlos in ihren Verstecken, bis die Fremden vorübergezogen waren. Die Ronin sahen sich ständig in alle Richtungen um, warfen Blicke über ihre Schultern und fühlten sich zunehmend unbehaglicher. Das menschliche Augenlicht war nicht für dieses undurchdringliche Labyrinth geschaffen, in dem überall etwas Unsichtbares jenseits ihrer eingeschränkten Sichtweite auf sie lauern und sie beobachten mochte.
Im Nebel vor ihnen war ein leises Stöhnen zu hören, dann noch eines und noch eines, als hätte das Land selbst einen Klagechor über ihr Eindringen angestimmt.
»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Hara und brach damit den Zauber, der ihre Kehlen gelähmt hatte.
»Geister ...«, sagte das Halbblut und warf einen kurzen Blick über die Schulter. Kai schien nur ungern zu antworten, obwohl alle so aussahen, als warteten sie verzweifelt auf eine Erklärung. »Die Rufe der Alten und Verletzten, die man zum Sterben hier zurückgelassen hat.« Erneut sah er weg und murmelte: »Und ungewollte Kinder.«
Oishi warf einen Blick zu ihm hinüber und hörte mehr als nur Zurückhaltung in diesen letzten Worten. Er wusste, dass Bauern, die zu arm waren, um ihre Familien
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