47 Ronin: Der Roman zum Film (German Edition)
alle davor zurückschrecken, ihn anzusprechen. Niemand folgte ihm dichtauf, aber sie folgten ihm.
Jenseits der Steinwand wurde der Geisterwald plötzlich zu einem Bambushain. Oishi war erneut überrascht, denn bisher hatten sie nirgendwo Bambus wachsen sehen. Es war, als wäre er hier angepflanzt worden. Das musste allerdings angesichts der Größe einiger Stämme und der Ausdehnung des Hains schon Jahrhunderte her sein.
Kai ging mit gesenktem Kopf und noch immer verkrampften Schultern. Auf seinem Gesicht war nichts abzulesen, wenn er hin und wieder hochsah oder nach rechts und links schaute. Doch Oishi bemerkte, dass er leichenblass war. Er fragte sich, warum das Halbblut bereit war, an einen Ort zurückzukehren, der ihm offensichtlich so viel Schmerzen bereitete – körperlich wie seelisch –, um den Ronin Waffen zu beschaffen, die sie benötigten, wenn ihr Plan Erfolg haben sollte.
Er hatte keine Ahnung, welcher Beweggrund Kai dazu getrieben hatte. Hasste er Kira so sehr, dass er das hier auf sich nahm, um sich für das zu rächen, was ihm auf Dejima widerfahren war? Oder liebte er Mika wirklich so sehr, dass er bereit war, für sie zu sterben? War es möglich, dass aufgrund des unergründlichen Willens der Götter die Seele eines Samurai im Körper eines Halbbluts wiedergeboren worden war und Kai deshalb genau wie alle anderen hier durch seine Ehre dazu verpflichtet war, Fürst Asanos Tod zu rächen?
Kira war als Samurai geboren – aber nicht als Ehrenmann. Das galt auch für den Shogun
... Oishi zwang sich, sich darauf zu konzentrieren, wo er war und aus welchem Grund. Er fragte sich, ob die Prüfung seiner Willensstärke bereits begonnen hatte. Seine Hände verkrampften sich an seinen Seiten, als etwas Neues in dem wabernden Nebel sichtbar wurde.
Diesmal war es zu seiner Überraschung das riesige Abbild eines sich zurücklehnenden Buddhas an einer Klippenwand. Der Felsvorsprung, der längst verstorbenen Künstlern die Möglichkeit geboten hatte, ihrer Vorstellungskraft freien Lauf zu lassen, war viel größer als die Steinsäule, die man in einen
tengu
verwandelt hatte. Oishi blieb stehen und schüttelte den Kopf. Ein Abbild Buddhas war das Letzte, was er hier erwartet hätte. Doch plötzlich ergab für ihn der Bambushain einen Sinn: Dies war früher einmal der Standort eines Tempels gewesen. Wichtige Tempel und Heiligtümer waren immer von Bambus umgeben, der als heilige Barriere gegen das Böse diente.
Er warf Kai erneut einen Blick zu, um sicherzugehen, dass sie dasselbe sahen. Das Halbblut war langsamer geworden und sah nach oben, als sähe er die Figur ebenfalls. Dann schaute er weiter nach unten, auf den Schatten unter ihrem Hals. Er hob seine Hände wieder an die Stirn und presste sie fest gegen die Narben. Sein Kiefer mahlte, als würde er noch einmal den schmerzhaften Moment durchleben, als sie eingeritzt worden waren. Doch er ging weiter auf die Klippe zu, also folgten Oishi und die anderen ihm. Alle versuchten, so leise zu gehen, als wären sie gar nicht da.
Kai erreichte den Fuß des gemeißelten Buddhas, der auch in seiner zurückgelehnten Haltung noch immer so hoch war wie vier Männer. Er blieb schließlich an dem schattigen Einschnitt unterhalb des Halses stehen – wo Körper und Geist zusammenkamen –, legte seine Hände aneinander und neigte den Kopf nach vorne. Er begann, Worte zu murmeln, die wie ein Gebet klangen, obwohl Oishi sie nicht deutlich verstehen konnte.
Oishi warf seinen Männern einen Blick zu. Sie waren mit ihm gemeinsam stehengeblieben und hielten Abstand zu der Klippenwand. Die Ronin beobachteten das Halbblut nervös. Ihre Spannung wuchs, als er sein Gebet beendete und sich wieder ihnen zuwandte.
Die Erleichterung auf seinem Gesicht verschwand umgehend, als er sie anschaute und ihre offensichtliche Angst sah. Sein Blick wanderte zu Yasunos Hand, die über seinem Schwert schwebte, bevor er schließlich Oishi anschaute. »Nur Ihr«, sagte er und zeigte auf Oishi. »Die anderen müssen zurückbleiben.«
Oishi runzelte bei dieser Aussicht die Stirn. Seine Männer taten es ihm gleich. Er schaute Kai unsicher an.
»Lasst Eure Waffen hier«, forderte Kai, als hätte er Oishis Widerwillen nicht bemerkt, und beachtete die Feindseligkeit der anderen Männer nicht. Er zog sein eigenes Schwert aus den Gürtelschlaufen seiner
hakama
und legte es auf den Boden. Dann warf er Oishi einen letzten, erwartungsvollen Blick zu und verschwand in der Dunkelheit des Tunnels, der unter
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