47 Ronin: Der Roman zum Film (German Edition)
fragte sie schwach.
»Weil Ihr Euren Vater zu sehen wünscht, Mika-
hime
…«, erklärte er, als befänden sie sich auf einmal nicht mehr auf einem Burghof, sondern in einem Kloster. »Und was er jetzt am meisten braucht, ist, Hoffnung in Euren Augen zu sehen. Genauso wie er Euch lächeln sehen wollte, als Ihr noch ein Kind wart. Ich dachte … wenn Ihr vielleicht etwas erfahrt, das Euch tröstet …«
»Bashō-
sama
…« Sie kämpfte um ihre Selbstbeherrschung, damit sie aufrecht vor ihm stehen und seinem Blick begegnen konnte und sich nach all den Jahren nicht wieder in das trauernde Kind zurückverwandelte. »Ich danke Euch aus tiefstem Herzen, um meines Vaters willen … Aber …« Sie neigte den Kopf erneut, eher in Demut als in Dankbarkeit. »Warum seid Ihr der Einzige, der mich nach allem, was ich getan habe, immer noch mit denselben Augen ansieht?«
Er wirkte überrascht. »Ihr habt nichts falsch gemacht, Herrin. Ihr habt Euch nur in jemanden verliebt. Jemanden, der durch die Güte Eures Vaters gerettet wurde. Wir lieben, wen wir lieben. Das ist unser Schicksal … Ob es nun richtig ist oder falsch.« Er sah weg, als wäre er unsicher, ob er das Recht hatte, seine Meinung vor der Tochter seines Herrn so deutlich auszusprechen.
Aber da sein Gewissen ihm nicht erlaubte, zu schweigen, fuhr er fort: »Mika-
hime
, Ihr sprecht von
wabi-sabi
, wie jemand, der mit den heiligen Worten Buddhas im Herzen geboren wurde. Buddha hat einmal gesagt: ›Der wahre Wert eines Menschen hängt nicht von seiner Erscheinung oder seinem Rang ab. Er liegt in der Größe seines Geistes.‹ Ihr seht die wahre Schönheit in den Dingen und Menschen – und zwar ihre Einzigartigkeit und die Vergänglichkeit ihrer Existenz auf der Welt. Das ist eine seltene Gabe.«
Er sah wieder zu ihr auf. Sein Gesicht lag halb im Schatten. »Das Tokugawa-
bakufu
hat unser Land wie eine Seidenraupe in einen Kokon eingesponnen, um alles auszusperren, was nicht japanisch ist … Es ist gut, auf unsere Lebensweise stolz zu sein, aber es birgt auch Gefahren. Das tut Stolz immer. Wir sind nicht die einzigen Kinder der Götter auf dieser Welt … Ebenso wenig verbirgt sich in allen Fremden ein Dämon. Es mag sogar sein, dass das Halbblut sich in einer anderen Zeit den Rang eines Samurai in allen Belangen verdient hätte. Aber er wurde hier und jetzt geboren … zur falschen Zeit am falschen Ort.«
Mika führte ihre Hand zum Mund. Sie biss sich auf einen Finger, um einen Schmerzenslaut zu ersticken.
»Mika-
hime
…« Bashō schüttelte sanft mahnend den Kopf. »Buddha hat auch gesagt: ›Lasse deine liebevolle Güte ohne Ausnahme auf alle Lebewesen strahlen.‹ Am Ende ist die Güte, die wir geben, und die Güte, die uns zuteilwird, alles, was von unserer Seele bleibt. Das nächste Leben des Halbbluts wird ein besseres sein, weil ihm Eure Güte zuteilwurde. Und das wird Eures auch.«
Er lächelte kurz, fast verlegen, bevor er sich verbeugte und sie allein ließ. Er ging fort, als hätte er lediglich wie befohlen eine Nachricht überbracht. Sie sah ihm einen Moment lang nach und fragte sich, was ihn wirklich hergeführt hatte – ein Befehl von Oishi oder Buddhas Mitgefühl.
Sie drehte sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung, um ihren Vater zu suchen.
Sie entdeckte ihn schließlich genau da, wo Bashō gesagt hatte. Er saß neben dem Koi-Teich im Garten, um den er sich in seinen Mußestunden kümmerte. Er blickte auf den dunklen Himmel hinab, der sich in der Wasseroberfläche spiegelte. Die Welt stand auf dem Kopf.
Zum ersten Mal, seit sie ein Kind gewesen war, näherte sie sich ihm schüchtern und mit gesenktem Blick. Plötzlich sprang einer der gold- und silberglänzenden Fische aus dem Wasser und landete auf den Steinen, die den Teich umgaben.
Ihr Vater erhob sich langsam von seiner Bank, um den zappelnden Fisch aufzuheben und wieder ins Wasser zu werfen. Die Koi hatten sich schon so verhalten, solange sie denken konnte. Immer wenn sie eine gewisse Größe oder ein gewisses Alter erreicht hatten, verlangte es sie nach mehr als der Welt, die sie kannten. Und so sprangen sie aus dem Teich ins Unbekannte.
Sie erinnerte sich noch, wie sehr sich ihr Vater immer beeilt hatte, die Fische zu retten, als sie noch ein kleines Mädchen war. Er hatte sie gescholten, als könnten sie ihn tatsächlich verstehen, während er sie dahin zurückgebracht hatte, wohin sie gehörten.
Aber heute sagte er nichts. Er warf den Fisch einfach nur ins Wasser,
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