52 Verführungen: Ein Paar holt sich die Lust zurück - (German Edition)
ich Herbert in den fünfzehn Jahren, die wir uns inzwischen kennen, vielleicht insgesamt zehnmal habe weinen sehen. Er weigert sich, es zu tun, aber nicht aus Macho-Gehabe, sondern weil er um keinen Preis seine Verletzlichkeit zeigen will.
Die seltenen Anlässe, bei denen ich ihn habe weinen sehen, fühlten sich – für uns beide – so schrecklich an, dass wir jedes Mal sofort aus dem Streit herausgerissen wurden, in den wir uns gerade verstrickt hatten. Wenn Herbert weint, ist das so, als würde man ein Gebäude einstürzen sehen. Ich ertrage das ebenso wenig wie er.
Wenn ich allein bin, dann kullern mir oft aus den nichtigsten Gründe – sei es aus Kummer oder Rührung – dicke Tränen übers Gesicht. Die Zeitung kann mich genauso wie die Abendnachrichten fast täglich zum Weinen bringen. Wenn Herbert dabei ist, halte ich mich allerdings zurück. Keine Tränen
bei der Zeitungslektüre, kein Schniefen im Kino. Es ist für mich quasi Ehrensache, in seiner Anwesenheit trockene Augen zu bewahren. Selbst bei den herzzerreißendsten Filmen erlaube ich mir höchstens, ein paarmal mehr als sonst zu blinzeln oder mal die Nase hochzuziehen, aber nichts, wofür man ein Taschentuch bräuchte.
Trotzdem ist Herbert der Ansicht, ich sei so weinerlich wie ein Neugeborenes. Ich schätze, das liegt daran, dass ich oft weine, wenn wir streiten oder ich wütend bin. Mir erscheint das völlig normal, aber im Vergleich zu ihm ist es natürlich schon extrem tränenreich. Letztens kam Herbert jedoch nach Hause und erzählte: »Ich musste heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit rechts ranfahren, weil ich so geweint habe.« Er hatte sich die Hörbuchversion von Die Bücherdiebin angehört. Das überraschte mich, und zwar nicht so sehr, dass er geweint hatte, sondern dass er es zugab. Plötzlich kam es mir geradezu lächerlich vor, dass wir einander diesen Beweis von Nähe verweigerten. Also einigten wir uns darauf, bei der nächsten Verführung auf Sex zu verzichten und stattdessen zu lernen, in der Gegenwart des anderen zu weinen.
Zu diesem Zweck schauen wir uns Spike Jonzes Verfilmung des Kinderbuch-Klassikers Wo die wilden Kerle wohnen an. Es ist ein sehr trauriger Film über die Heimatlosigkeit und Einsamkeit eines Kindes. Ich spüre schon nach fünf Minuten, wie sich mir die Kehle zusammenschnürt, als die Freunde seiner Schwester Max’ Iglu kaputt trampeln. Und ich ertappe mich dabei, wie ich, obwohl wir im Dunkeln sitzen,
sofort den Impuls verspüre, meine Tränen zurückzuhalten. Herbert lehnt sich an mich. »Das ist ja schon traurig«, sage ich, und er antwortet: »Ich versuche, gar nicht weiter darüber nachzudenken.«
Das kann ich ihm nicht verübeln. Er hat schließlich mehr zu verlieren als ich. Den Rest des Films sehen wir uns schweigend an. Max’ kleiner Robotertanz, den er für seine Mutter aufführt, während sie ein schwieriges geschäftliches Telefonat führt, erinnert mich daran, wie ich einmal mit vier darauf wartete, dass meine Mum ein Telefonat mit meinem Vater beendete, als die beiden sich gerade scheiden ließen. Ich war damals bereit, jedes mir bekannte Lied zu singen, nur um sie wieder zum Lächeln zu bringen. Und als im Film das Riesenmonster Carol vor lauter Enttäuschung seine Burg zerstört, fühle ich mich an den Nachmittag zurückversetzt, als mein Vater mich in den Arm nahm und weinte, weil er einen unserer seltenen gemeinsamen Tage damit vergeudet hatte, mit seiner neuen Frau zu streiten.
Als der Film zu Ende ist, schüttelt mich das Schluchzen, so erfüllt bin ich von der Erinnerung daran, wie es war, dieses einsame, verwirrte Kind zu sein. Die Erwachsene in mir weint auch, weil ich eine eigenartige physische Verbindung zwischen der Zeit damals und heute, zwischen der unglücklichen Mutter und meiner eigenen Kinderlosigkeit spüre.
Stumm und ernst beobachtet Herbert mich. »Hast du geweint?« , frage ich.
»Nein«, sagt er. »Es hat einfach nicht funktioniert. Obwohl ich sehr traurig war.«
Danach gehe ich ins Bad und weine noch ein bisschen. Diesmal um den kleinen Jungen, der nicht gelernt hat, über traurige Dinge zu weinen.
August
I ch habe mir mein zweites Hollywood-Waxing machen lassen. Damit hätte ich eigentlich nicht gerechnet. Aber das erste gefiel mir einfach so gut.
Früher hätte ich vermutlich über Frauen, die sich das gesamte Schamhaar entfernen lassen, dezent die Nase gerümpft. Wahrscheinlich wäre ich zu höflich gewesen, meine Missbilligung laut auszusprechen, aber
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