60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
Brief von dem ‚geheimen Hauptmann‘ erhalten, der dies notwendig macht.“
„Mein Gott! Was steht darin?“
„Daß gestern etwas vergessen worden ist. Es muß noch eine Kleinigkeit besprochen werden; es wird aber ganz bestimmt das letzte Mal sein, daß man an Ihren Mann eine solche Forderung stellt.“
„Und wenn er doch nicht darauf eingeht?“
„So droht der Hauptmann, ihn anzuzeigen, daß er gestern den Gefangenen freigegeben hat.“
„Welch ein Zwang! Was soll ich tun?“
„Ganz ebenso habe auch ich mich gefragt. Die einzige Antwort ist die, daß wir gehorchen müssen.“
„Sie meinen also, daß ich zu meinem Mann gehen soll?“
„Ja. Hier ist der Brief. Nehmen Sie ihn mit. Aber ich bitte Sie um Gottes willen, ihn keinen Menschen weiter sehen zu lassen!“
„Das kann mir gar nicht einfallen. Es wäre ja zu unserem eigenen Verderben. Sie wollen also wirklich hundert Taler zahlen?“
„Ja. Ich gebe sie Ihrem Mann augenblicklich, sobald er mir den Gefangenen bringt.“
„Zu welcher Zeit soll das sein?“
„Punkt zwölf Uhr. Ich werde ganz an demselben Ort warten, wie gestern. Gehen Sie! Ich bleibe hier, bis Sie zurückkehren.“
Die Frau warf ein Tuch über und ging. Sie hatte keinen Begriff von der Größe der Gefahr, in welche sie ihren Mann stürzen, und von der Größe der Pflichtverletzung, zu welcher sie ihn verleiten wollte.
Es dauerte etwas über die angegebene Zeit, ehe sie zurückkehrte. Ihr Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck.
„Nun, was hat er gesagt?“ fragte der Baron.
„Er war ganz und gar dagegen.“
„Aber er hat sich doch noch erweichen lassen? Nicht?“
„Ja, freilich! Aber nicht um der hundert Taler, sondern um der Drohung des Hauptmannes willen. Es soll aber auf jeden Fall heute das letzte Mal sein, daß er so etwas unternimmt.“
„Damit bin ich einverstanden. Das habe ich ja auch selbst gesagt. Also er wird Punkt zwölf Uhr mit dem Bormann am Pförtchen sein?“
„Ja, wenn es möglich ist. Ist er noch nicht da, so sollen Sie warten. Er kommt später ganz gewiß.“
„Schön. Die hundert Taler erhält er augenblicklich. Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“
Er ging. Sein Weg führte ihn in jenen entlegenen Stadtteil, wo in dem Gartenhaus die geheimen Zusammenkünfte abgehalten wurden. Er gelangte auf dem bereits angegebenen Weg hinein. Als er wieder zurückkehrte, war Mitternacht bereits nahe. Es mußte viel verhandelt worden sein.
Wäre jemand an der anderen Seite der Gartenmauer aufgestellt gewesen, hätte er beobachten können, daß aus einem schmalen Pförtchen nach gewissen Pausen dunkle Gestalten huschten. Dem Pförtchen gegenüber war ein kleines Gehölz. Am Rande desselben stand im Dunkel der Bäume ein Mann, welcher für die Sicherheit der Passage zu sorgen hatte. Jedesmal, wenn jemand drüben erschien, gab er durch ein halblautes „Pst!“ das Zeichen, daß keine Gefahr vorhanden sei.
Nach dem letzten wurde das Pförtchen von innen leise verschlossen. Dieser Mann blieb einen Augenblick stehen und verschwand dann, nachdem er das „Pst!“ vernommen hatte, um die Ecke. Er eilte raschen Schrittes weiter, dem Innern der Stadt zu. Er schien von einem Gedanken oder Entschluß gejagt zu werden. Er trat nach und nach in verschiedene Restaurationen ein, fand aber nicht, was er suchte. So war es beinahe ein Uhr geworden; da wurde ihm bange.
„Er ist nirgends zu finden!“ murmelte er. „Soll ich es auf mich selbst nehmen, oder soll ich das geheime Zeichen geben? Er hat mir allerdings gesagt, daß ich das nur in einem sehr dringlichen Fall tun soll; aber gerade der heutige scheint mir ein solcher zu sein. Ich werde es wagen.“
Er eilte nach dem vornehmen Stadtviertel. Dort wurden die Straßen von prachtvollen Villen gebildet. Da lag auch die Palaststraße, in welcher der Fürst von Befour wohnte. Hinter ihr zog sich eine zweite parallel dahin, an deren Eckhäusern die Bezeichnung ‚Siegesstraße‘ zu lesen war. Auch hier standen große, palastartige Gebäude und mitten unter ihnen ein kleines Häuschen in freundlichem Schweizerstil, welches nur für eine Familie eingerichtet sein konnte. Am Eingang zu diesem Häuschen gab es den Knopf zu einer elektrischen Klingel. Darauf drückte der Mann.
Es war der Schlosser, welcher gestern dem Fürsten von Befour die Schlüssel zur Wohnung der Baronesse Alma gegeben hatte.
Nach kaum einer Minute wurde die Tür geöffnet. Der Hausflur war erleuchtet, und so konnte man den ehrwürdigen Kopf eines alten,
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