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600 Stunden aus Edwards Leben

600 Stunden aus Edwards Leben

Titel: 600 Stunden aus Edwards Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Lancaster
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nervös, sie zu sehen, was ein eigenartiges Gefühl für mich ist. Es ist nicht so, dass ich nicht gern zu Dr. Buckley gehe; im Gegenteil, manchmal kommt es mir vor, als würde ich ohne sie nicht vorankommen. Aber es ist lange her, dass ich so viele Dinge hatte, die ich mit ihr besprechen möchte. Vielleicht noch nie. Darüber habe ich keine Daten.

    Ich werfe einen Blick auf die Beistelltische mit den Zeitschriften, die erwartungsgemäß durcheinandergebracht wurden von Patienten, die nicht höflich genug sind, Sachen wieder so zurückzulegen, wie sie sie vorgefunden haben. Ich würde lügen, wenn ich sagte, es wäre mir egal – und ich lüge nicht, abgesehen von dem einen Mal bei Donna Middleton wegen der Kosten für den Blauen Blitz –, aber ich merke, dass ich keine Lust habe, sie zu sortieren. Wenn ich mich heute konzentrieren könnte, würde ich einzig und allein an mein bevorstehendes Gespräch mit Dr. Buckley denken, aber Konzentration ist mir heute unmöglich. Ich sitze nur da, starre vor mich hin und warte.
    Nach einer Weile senke ich den Kopf, um nachzusehen, woher das klopfende Geräusch kommt, und es kommt von mir. Meine Ferse wippt auf und ab wie ein Kolben und gibt dieses metronomartige Geräusch von sich, wenn sie immer wieder auf Dr. Buckleys Teppichboden landet.

    Um 9:57 Uhr führt Dr. Buckley eine Patientin durch das Wartezimmer – sie (die Patientin) sieht aus wie etwas über fünfzig, pummelig und matronenhaft, und sie hat geweint. Ich wende den Blick ab, aus Rücksicht vor ihrem Schmerz und weil ich keinen Augenkontakt mit einer Fremden haben will. Dann ist sie weg.
    Ich sehe auf, und Dr. Buckleys Blick sagt: »Gehen wir.«
    Ich schaue auf die Uhr.
    9:57:08 … 9:57:09 … 9:57:10 …
    Ich stehe auf. Die über zwei Minuten extra kann ich vielleicht gut gebrauchen.

    »Wie war Ihre Woche, Edward?«, fragt Dr. Buckley.
    »Sie werden es nicht glauben.«
    So habe ich noch nie angefangen, und Dr. Buckley setzt sich abrupt aufrecht hin. »Versuchen Sie es.«
    »Ich habe Träume gehabt, an die ich mich deutlich erinnern kann, und das ist noch nie passiert.«
    »Fahren Sie fort.«
    »Ich habe mit Onlinedating angefangen.«
    »Tatsächlich?«
    »Ja, über
Montana Personal Connect
. Vielleicht habe ich bald eine Verabredung.«
    »Tja, das ist wirklich etwas Neues.«
    »Ja. Und ich habe mich mit einem neunjährigen Jungen und seiner Mutter angefreundet. Zumindest denke ich, dass wir Freunde sind. Ich bin sicher, der Junge und ich sind Freunde. Bei der Mutter ist das schwer einzuschätzen.«
    »Sonst noch etwas?«
    »Ich habe mich mit meinem Vater gestritten.«
    »Nun, Edward, das ist ja eigentlich nichts Neues, oder?«
    »Nein, ich denke nicht.«
    »Also gut«, sagt sie. »Besprechen wir alles eins nach dem anderen. Fangen wir mit dem Jungen und seiner Mutter an.«

    Ich erzähle Dr. Buckley alles: wie Kyle zu mir kam und mir zweimal beim Streichen der Garage geholfen hat, meinen Traum, dass ich ihn an der Klippe nicht festhalten kann, das Missverständnis in der Notaufnahme der
Billings Clinic
, Mikes Angriff später am Abend, das Gespräch an meiner Tür am frühen Morgen, der Blaue Blitz und Donnas lauwarme (ich liebe das Wort »lauwarm«) Reaktion darauf.
    Sie bittet mich, mehr über die Träume zu erzählen, also schildere ich ihr auch die anderen: den mit der nackten Frau, die ich nicht kenne, den mit Joy und dem riesigen Plasmabildschirm, den, in dem Mike mit einem Baseballschläger auf mich zukommt. Ich sage Dr. Buckley, dass es mir peinlich ist, über die Träume zu sprechen,in denen ich nackt bin, aber sie sagt, das sei in Ordnung, ich solle einfach weitererzählen.
    »Edward, da ist immer noch sehr viel, das wir über Träume und ihre biologische Funktion nicht wissen, aber ich glaube, über Ihre können wir vernünftige Vermutungen anstellen.«
    »Ich mag keine Vermutungen. Ich bevorzuge Tatsachen.«
    »Das weiß ich, aber versuchen wir es einfach, okay?«
    »Ja.«
    »Sie hatten eine ereignisreiche Woche. Neue Menschen sind auf eine Art und Weise in Ihr Leben und Ihr Bewusstsein getreten, wie es vorher noch nie der Fall war. Würden Sie dem zustimmen?«
    »Ja.«
    »Ich glaube, darin liegen Ihre Träume begründet. Sie haben diesen Menschen einen – wenn vielleicht auch kleinen – Platz in Ihrem Leben eingeräumt. Sie nehmen sich Zeit, um mit der Frau in Broadview zu korrespondieren, Joy. Sie haben sich von Kyle beim Streichen helfen lassen und ihm sogar ein tolles Fahrrad

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