600 Stunden aus Edwards Leben
hin zu einer Streichung sämtlicher Zahlungen und Leistungen.
Mit freundlichen Grüßen,
Jay L. Lamb
Am anderen Ende der Leitung höre ich die müde Stimme meiner Mutter. »Wohnsitz der Stantons.«
»Mutter, hol Vater ans Telefon.«
»Ach, hallo, mein Schatz. Dein Vater schläft. Er hatte einen anstrengenden Abend.«
»Hol ihn ans Telefon.«
»Er schläft, Edward.«
»Hol ihn ans gottverdammte Telefon!«, brülle ich.
Meine Mutter stößt einen kleinen Schrei aus. Im Hintergrund höre ich ein Rascheln und ihre Stimme, drängend: »Es ist Edward. Es ist Edward.«
»Edward?« Mein Vater klingt verschlafen.
Jetzt schreie ich. »Ich bin gerade bei euch gewesen. Warum kannst du nicht mit mir reden? Warum muss es immer dieser gottverdammte Anwalt sein?«
Ich knalle den Hörer auf die Gabel.
Die heutige Folge von
Polizeibericht
ist die erste der ersten Staffel. Sie heißt »Der Fall Benjie« und ist eine meiner Lieblingsfolgen.
Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon werden gerufen, weil ein Junge dabei beobachtet wurde, wie er seinen Kopf in Löcher steckt und Rinde von Bäumen abnagt. Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon finden dieses Verhalten äußerst merkwürdig.
Sie stoßen auf einen Jungen namens Benjie Carver, aber niemand nennt ihn so. Alle nennen ihn »Blue Boy«. Sein Gesicht ist halb blau und halb gelb angemalt, und er hat Lysergsäurediethylamid eingenommen, besser bekannt als LSD. Das bringt die Polizisten in eine Zwickmühle, da diese Droge in Kalifornien noch nicht verboten ist.
Schon bald verteilt Blue Boy die Droge in West Hollywood, und viele Kinder werden davon krank, auch die beiden netten Teenager-Mädchen Edna May und Sandra. Nachdem die Gesetzgebung in Kalifornien LSD schließlich verbietet, helfen die Mädchen Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon dabei, Blue Boy zu finden. Leider ist Blue Boy bereits tot, da er zu viel von seiner eigenen Droge genommen hat.
Diese Folge von
Polizeibericht
ist eine Geschichte mit Moral.
Ich denke, ich hätte gern einen Vater wie Sergeant Joe Friday gehabt. Ich hätte ihm zwar nie etwas vormachen können – dafür ist Sergeant Joe Friday viel zu schlau –, aber ich denke, er hätte versucht, mich und das, was ich tue, zu verstehen. Und wenn er nicht einverstanden gewesen wäre, hätte er es mir selbst gesagt. Sergeant Joe Friday hätte mir niemals einen Brief von einem Anwalt schreiben lassen. Das ist einfach nicht seine Art.
Aber Sergeant Joe Friday hat nie geheiratet und Kinder bekommen. Der Mann, der ihn spielte, Jack Webb, hatte vier mal geheiratet – was Sergeant Joe Friday nie getan hätte, da bin ich sicher – und zwei Kinder. Sergeant Joe Friday kommt nicht mehr im Fernsehen, und Jack Webb ist seit fast sechsundzwanzig Jahren tot.
Ich muss mit dem Vater auskommen, den ich habe.
Jetzt brauche ich schon den sechsten grünen Aktenordner für die Briefe an meinen Vater.
Lieber Vater,
ich kann ohne Einschränkung sagen, dass Dein Verhalten mir gegenüber heute Abend einfach inakzeptabel war. Auch wenn ich verstehen kann, dass Du in Deiner Arbeit großem Druck ausgesetzt bist – obwohl ich vermute, dass Du ihn größtenteils selbst verursachst –, kann ich nicht stillschweigend dulden, dass du uns allen das Abendessen und mir den Besuch bei meiner Mutter verdorben hast, indem Du auf dieser Garagenstreicherei herumgeritten bist.
Und dennoch verblasste das alles im Vergleich zu dem, was mich zu Hause erwartete: ein Brief deines Anwalts, der mich wegen der Ereignisse von Samstag in der
Billings Clinic
zurechtwies. Ich kann nur schwer glauben, dass wir dieseAngelegenheit nicht auch unter uns hätten regeln können, ohne rechtliche Einschaltung eines Anwalts.
Ich weiß nicht, was ich tun soll, Vater. Ich weiß nicht, wie ich es Dir recht machen soll. Ich weiß nicht, ob Du weißt, wie das gehen soll.
Ich verbleibe, wie immer, Dein Sohn
Edward
MITTWOCH, 22. OKTOBER
Als ich aufwache – um 7:40 Uhr, das dreißigste Mal von den 296 Tagen dieses Jahres (weil es ein Schaltjahr ist) –, fegt der Wind ums Haus und rüttelt an den Fenstern. Nachdem ich meine Daten eingetragen habe, lehne ich mich übers Bett und ziehe den Vorhang zur Seite.
Die frei stehende Esche im Garten, die an ihren letzten rotbraunen Blättern festhält, neigt sich unter dem starken Wind hin und her. Ich blicke zum unheilvoll grauen Himmel hinauf.
Zwei Gedanken schießen mir durch den Kopf: Erstens denke ich, dass Montana im Herbst den
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