600 Stunden aus Edwards Leben
sieht der einen Brücke sehr ähnlich, die ich im Osten von Montana gesehen habe, auf der Interstate 94 in der Nähe von Terry, die sich weit über den Yellowstone River spannt. Wir bewegen uns nicht von der Stelle.
»Tut mir leid, Leute«, sage ich, als ich den Gang einlege. Ich trete leicht aufs Gas, und der Wagen gleitet von der Straße ins Nichts, sodass dort, wo gerade noch die Straße war, nur Leere zu sehen ist.
Ich blicke wieder nach rechts, und Joys Gesicht ist aschfahl.
»Es tut mir leid«, wiederhole ich.
Ich trete mit den Füßen in die Luft – eine unkontrollierte Reaktion auf die Erwartung des sicheren Todes. Als ich keinen Boden spüre, öffne ich die Augen und kneife sie leicht zusammen, um mich an die fehlende Helligkeit zu gewöhnen.
Vom Nachtschrank aus leuchten die grünen Ziffern meiner Digitaluhr in die Dunkelheit: Es ist 5:12 Uhr. Ich atme tief ein, währendich darauf warte, dass mein Pulsschlag sich beruhigt, dann drehe ich mich auf die andere Seite und umklammere mein Extrakissen. Ich sacke wieder weg, diesmal in einen traumlosen Schlaf.
Als ich erneut aufwache, ist es 11:51 Uhr. Meine Daten sind nicht ruiniert – tatsächlich gibt es einen erstmaligen Eintrag ‐, aber mein unberechenbarer Schlaf hat meinen Tag verunstaltet.
Im Badezimmer muss ich lange pinkeln, und dabei meine ich nicht die Entfernung, sondern die Zeit. Das ist etwas, worüber ich keine Daten sammle. Erstens wäre es eklig. Zweitens ist mein Schlaf normalerweise so zuverlässig – von 297 Tagen in diesem Jahr (weil es ein Schaltjahr ist) bin ich an 294 fast zur selben Zeit aufgewacht, mit einem Spielraum von nur vier Minuten –, dass dies auch physiologische Vorteile hat. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, kann ich sagen, dass meine Badezimmerzeiten ebenso vorhersehbar sind wie meine Aufwachzeiten.
Im Wohnzimmer spähe ich durch den Vorhang des vorderen Fensters und sehe, was der
Billings Herald-Gleaner
gestern vorhergesagt hat: Schnee. Es ist nicht viel – eine mitteldicke Schicht, die verschwinden wird, sobald die Temperatur über drei Grad ansteigt, wie ich vermute, obwohl ich keine Vermutungen mag und stattdessen lieber abwarte, was passiert –, aber trotzdem ist es Schnee. Ich kann meinen Tagesablauf heute um eine Runde Schneeschippen erweitern.
Ausgestattet mit Winterstiefeln, Handschuhen, Mütze und warmer Jacke stapfe ich aus der Hintertür und durch das Gartentor zur Garage, wo ich meine Schneeschaufel hole.
Als ich vor zwei Jahren in Los Angeles war, erzählte ich dem Portier des
Renaissance Hotel
am Hollywood Boulevard, Ecke Highland Avenue, ich käme aus Billings, Montana, und er schauderte demonstrativ. Man sagt ja, jeder in Hollywood sei ein Schauspieler.
»Da könnte ich nicht leben«, meinte er dazu. »Wie werden Sie mit dem Schnee fertig?«
Ich dachte, so etwas kann er nur aus Unkenntnis sagen. Der jährliche Schneefall in Billings liegt bei 14,5 Zentimeter, was zugegebenermaßen mehr ist als in Hollywood, aber trotzdem weniger als in Great Falls (16 Zentimeter) oder einem Ort wie Syracuse, New York (29,5 Zentimeter). Ich dachte, ich sollte ihm das sagen, aber da gab er mir schon den Zimmerschlüssel und bot nur noch an, es ihn wissen zu lassen, »wenn Sie irgendetwas brauchen«.
Des Weiteren hätte ich ihm sagen können, dass ich liebend gern Schnee schiebe, vielen Dank, und deshalb stehe ich jetzt eingemummelt und grinsend hier draußen.
Den frisch vom Schnee befreiten Gehweg und die Garagenauffahrt empfinde ich als sehr reizvoll. Ich liebe es, wie das Blatt der Schneeschaufel dort, wo vorher Schnee gewesen ist, schöne gerade Linien zieht. Sorgfältig richte ich den Rand der Schaufel an der Bordsteinkante aus, schiebe sie in einem Rutsch bis zum Ende der Grundstücksgrenze, richte die Schaufel dann an dem Streifen aus, den ich gerade leer geschoben habe, und wiederhole das Ganze.
Da die Auffahrt viel breiter ist als der Gehweg, brauche ich dort mehrere solcher Durchgänge, wobei ich den Schnee auf die Straße schiebe, wo der Verkehr ihn verdichten und wegschmelzen wird.
Es dauert weniger als eine halbe Stunde, um alles wegzuschieben, was sich den ganzen Morgen über schon angesammelt hat, und vermutlich werde ich später noch einmal rausgehen müssen, doch das macht mir nichts aus.
Zu Mittag esse ich ein Fertiggericht, Enchilada mit Rindfleisch. Durch mein Verschlafen habe ich das Frühstück verpasst und mein Medikament bisher nicht eingenommen. Jetzt, wo ich
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