61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
rechts fragte: »Wer sind Sie?«
Reacher sagte: »Fahrt heim. Für Dummheiten auf der Straße ist’s zu kalt.«
Keine Antwort.
Peterson und Holland taten absolut nichts. Ihre Pistolen steckten in den Halftern, die verschlossen waren. Reacher plante sein weiteres Vorgehen. Bereit sein war alles. Er erwartete keine gravierenden Schwierigkeiten. Den größeren Kerl hätte er lieber links gehabt, weil eine rechte Gerade dann wegen des längeren Wegs wirkungsvoller gewesen wäre und er bei zwei Gegnern am liebsten erst den größeren flachlegte. Aber es fehlte ihm ja nicht an Flexibilität. Vielleicht war es besser, erst den nervösen Typen auszuschalten. Der größere Kerl war bestimmt langsamer und ohne chemische Unterstützung vielleicht weniger aggressiv.
Reacher sagte: »Jacke her oder abhauen, Jungs.«
Keine Antwort von den beiden Männern. Dann erwachte Chief Holland aus seiner Lethargie. Er trat wütend einen Schritt vor und schimpfte: »Verschwindet aus meiner Stadt, ihr Scheißkerle!«
Dann stieß er den kleineren Mann in den Rücken.
Der stolperte auf Reacher zu, fing sich wieder, warf sich herum und wollte sich auf Holland stürzen, wobei er mit der Rechten weit ausholte wie ein Pitcher, der die Radarpistole treffen will. Reacher bekam den Kerl am Handgelenk zu fassen, hielt ihn kurz fest und ließ ihn dann wieder los. Der Kerl stolperte unkoordiniert und ineffektiv durch den Rest seiner Drehung und versuchte einen verspäteten Schwinger, der Holland gänzlich verfehlte.
Doch dann warf er sich erneut herum und wollte Reacher eine Gerade verpassen. Was nach Reachers Auffassung die ganze Unschuldsvermutung widerlegte. Er wich nach links aus, so dass die ankommende Faust sein Kinn nur ganz knapp verfehlte. Die Wucht dieses Schlags ließ den Kerl weitertorkeln, und Reacher holte ihn mit einem Tritt von den Beinen, sodass er der Länge nach aufs Eis schlug. Worauf der größere Kerl herangewatschelt kam: säulenförmige Oberschenkel, kurze ruckartige Schritte, Fäuste wie Schinken, wie ein gereizter Stier im Bilderbuch Dampfstrahlen aus den Nüstern schnaubend.
Leichte Beute.
Reacher stellte sich dem anstürmenden Kerl in den Weg und knallte seinen Ellbogen mitten in den weißen Bereich zwischen Bart und Haaransatz. Das war, als liefe der andere in vollem Tempo gegen eine Gerüststange. Damit war das Spiel aus, aber der kleinere Kerl kniete schon wieder und suchte wie ein Sprinter in den Startblöcken mit Händen und Füßen auf dem Eis Halt. Dann traf Reachers kräftiger Tritt ihn am Kopf. Der Kerl verdrehte die Augen, kippte um und blieb mit den Beinen unter dem Körper still liegen.
Reacher steckte die Hände wieder in die Taschen.
Peterson sagte: »Jesus.«
Die beiden Männer lagen dicht nebeneinander, zwei dampfende schwarze Klumpen im Mondschein. Peterson sagte nichts mehr. Holland stakste zu seinem neutralen Dienstwagen, benutzte das Funkgerät und kam nach einer langen Minute zurück, sagte: »Ich habe gerade zwei Krankenwagen angefordert.«
Dabei starrte er Reacher an.
Reacher reagierte nicht.
Holland fragte: »Wollen Sie mir erklären, warum ich zwei Krankenwagen anfordern musste?«
Reacher sagte: »Weil ich ausgerutscht bin.«
»Was?«
»Auf dem Eis.«
»Das ist Ihre Story? Sie sind ausgerutscht und versehentlich mit ihnen zusammengeprallt?«
»Nein, ich bin ausgerutscht, als ich den großen Kerl getroffen habe. Das hat den Ellbogenstoß abgemildert. Wäre ich nicht ausgerutscht, würden Sie keine zwei Krankenwagen anfordern, sondern einen Krankenwagen und einen Leichenwagen.«
Holland schaute weg.
Peterson sagte: »Warten Sie im Wagen.«
Der Anwalt ging um 22.45 Uhr ins Bett. Seine Kinder schliefen bereits seit zwei Stunden, und seine Frau war noch in der Küche. Er stellte seine Schuhe ins Regal, legte seine Krawatte in die Schublade und hängte seinen Anzug auf einen Bügel. Sein Hemd, die Socken sowie die Unterwäsche warf er in den Wäschekorb. Er zog den Schlafanzug an, suchte die Toilette auf, putzte sich die Zähne, kroch unter die Decke und starrte die Zimmerdecke an. In seinen Ohren hallte noch immer das Lachen nach, das er am Telefon gehört hatte. Ein Blaffen, ein Jaulen voller Begeisterung. Voller Vorfreude. Voller Schadenfreude. Die Zeugin liquidieren, hatte er aufgezählt, und der Mann am anderen Ende hatte vor Freude gelacht.
Reacher setzte sich wieder in den Streifenwagen und schloss die Tür. Sein Gesicht war vor Kälte gefühllos. Er drückte die
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