61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Patronenhülse gefunden. Sie hatte am Ende einer fingerlangen Furche im Schnee gesteckt. So tief war sie in den schmelzenden Schnee eingedrungen. Die Furche war leicht zugeschneit, aber noch gut sichtbar, wenn man wusste, wonach man Ausschau halten musste. Und der Cop bestätigte, dass das Warnschild ein neues Einschussloch aufwies: ganz frisch herausgestanzt, bestimmt von einem Neun-Millimeter-Geschoss, genau im G von Glatteisgefahr .
Peterson beriet sich mit Holland, und sie waren sich darüber einig, der Gesuchte müsse sich weiter unerkannt irgendwo in der Nähe aufhalten.
Weil sein Auftrag erst zur Hälfte ausgeführt war.
Fünf Minuten später war Jay Knox ein freier Mann. Aber ihm wurde mitgeteilt, seine Glock bleibe für alle Fälle bis zu seiner Abreise auf der Polizeistation verwahrt. Darauf ließ Knox sich bereitwillig ein. Reacher sah ihn das Dienstgebäude verlassen und ins Schneegestöber hinaustreten: rehabilitiert, aber trotzdem besiegt; erleichtert, aber trotzdem frustriert. Peterson und Holland berieten sich erneut, dann versetzten sie ihre Leute in erhöhte Alarmbereitschaft. Sogar Kapler und Lowell kehrten in den aktiven Dienst zurück. Alle verfügbaren Beamten sollten in Streifenwagen die Straßen abfahren und auf fremde Gesichter, auswärtige Fahrzeuge und auffälliges Verhalten achten.
Peterson pinnte neue Tatortfotos an die Wände des kleinen Büros am Korridor außerhalb des Bereitschaftsraums. Sie kamen an die Wand gegenüber dem schwarz gekleideten Mann, der tot im Schnee lag. Reacher stöberte ihn dort auf. Peterson sagte: »Wir haben uns nur zum Narren gemacht und eine Menge Zeit vergeudet.«
Reacher sagte: »Nicht allzu viel Zeit.«
»Was würde Ihre Eliteeinheit als Nächstes tun?«
»Wir würden über Automatikgetriebe und vorsichtige Menschen spekulieren.«
»Was soll das heißen?«
»Sieht man davon ab, dass Knox nicht Ihr Mann war, haben Sie den Tatablauf genau richtig geschildert, denke ich. Dass im Schnee keine Fußabdrücke gefunden wurden, ist ein ziemlich schlüssiger Beweis. Die beiden Wagen haben Seite an Seite gehalten, sodass die Fahrerfenster auf gleicher Höhe waren. Der böse Kerl hat dem Anwalt zugewinkt, er solle anhalten. Der Anwalt hat’s getan. Die Frage ist nun: Warum hat er angehalten?«
»Das hätte wohl jeder getan.«
Reacher nickte. »Richtig, das passt zu den Straßenverhältnissen. Im Sommer und bei normaler Geschwindigkeit wäre das nicht passiert. Aber im Winter, wenn hoher Schnee liegt … klar. Man kriecht dahin, man vermutet, der Entgegenkommende habe etwas Wichtiges mitzuteilen. Also hält man an. Gehört einer jedoch zu den Typen, die Überschuhe tragen, einen Nothammer am Instrumentenbrett montieren lassen, im Autoradio Wettermeldungen hören und immer einen vollen Tank haben, bleibt man ein bisschen misstrauisch. Man lässt den Wählhebel auf D gestellt und den Fuß auf der Bremse, damit man notfalls gleich weiterfahren kann. Vielleicht öffnet man sein Fenster nur einen Spalt weit. Aber beides hat Ihr Anwalt nicht getan. Er hat den Wählhebel auf P gestellt und sein Fenster ganz geöffnet.
»Und das bedeutet was?«
»Das bedeutet, dass er zu einem richtigen Gespräch bereit war. Eine Unterredung, eine Diskussion, eine längere Unterhaltung. Dafür hat er das Radio leiser gedreht. Was heißt, dass er den Kerl kannte, der ihn angehalten hat. Was durchaus vorstellbar ist, wenn man bedenkt, mit was für Leuten er sich eingelassen zu haben scheint.«
»Was würden Sie jetzt tun?«
»Sein Leben genau unter die Lupe nehmen.«
»Für uns ist das schwierig. Er hat im nächsten County gelebt, außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs.«
»Dann müssen Sie eben telefonieren und kooperieren.«
»Wie Sie früher mit den Feds?«
»Nicht ganz«, meinte Reacher.
Plato beendete seinen Nachmittagsspaziergang damit, dass er seinen Gefangenen besuchte. Der Kerl war mit einer Stahlkette um einen Fußknöchel an einem tief in die Erde eingelassenen Betonklotz angekettet. Er war ein Dieb. Er war zu geldgierig gewesen. Platos Geschäfte wurden notwendigerweise in bar abgewickelt, und große Mengen Banknoten mussten für längere Zeit vergraben, in Kellern oder sonstigen Verstecken aufbewahrt werden, wo Feuchtigkeit und Nagetiere etwa zehn Prozent Verlust verursachten. Von jeder Million verrotteten und verfaulten auf diese Weise hundert Riesen. Nur meldete die Abteilung dieses Kerls eher zwölf Prozent Schwund, was nicht normal war. Gründliche
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