61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Meilen, dann sechs, dann sieben. Danach veränderte sich der Horizont. Vor Reacher wurde die Straße breiter, gerader und ebener. Dramatisch. Radikal. Bis sie in der Ferne im Dunst verschwand, sah sie breit und eben wie eine Autobahn aus. Vielleicht noch breiter und ebener, wie ein Superhighway mit sechzehn Fahrspuren. Sie war ein prächtiges, surreales Stück Straße: etwas erhöht angelegt und zwei Meilen weit absolut eben und gerade.
Und sie war geräumt.
Reacher sah nur glatten grauen, schnee- und eisfreien und mit Streusalz behandelten Beton. Auf beiden Seiten waren hohe Schneewälle aufgetürmt, geglättet und so geformt worden, dass der eisige Präriewind über der westlichen Barriere anstieg und erst nach der östlichen wieder den Boden erreichte. Die Eiskristalle flirrten in anderthalb Meter Höhe darüber hinweg. Die Straßenoberfläche selbst schien trocken zu sein wie im Sommer.
Er bremste und holperte langsam auf die leicht erhöhte Fahrbahn. Die Schneeketten an den Hinterrädern rasselten laut. Der Wagen versuchte nicht mehr, vorn auszubrechen. Reacher begnügte sich mit dreißig Meilen in der Stunde und spähte angestrengt nach vorn. Am Horizont waren graue Umrisse zu erkennen. Holzhütten in ordentlicher Reihe. Der Wagen schüttelte sich und zitterte. Auf trockenem Beton waren die Ketten nicht ideal.
Reacher fuhr weiter.
Aus einer Entfernung von einer halben Meile sah er vor sich rege Aktivität. Aus dreihundert Metern Entfernung wusste er, worum es sich handelte. Pick-ups mit Schneeräumschilden waren dabei, die Straße zu räumen. Erstaunlich viele. Mindestens dreißig bis vierzig. Hinter ihnen arbeiteten unförmige schwarz gekleidete Gestalten in einer Reihe mit Schneeschaufeln. Weitere schwarze Gestalten gingen rückwärts und verteilten aus umgehängten Boxen wie Farmer, die in weitem Bogen Hühnerfutter verstreuen, Streusalz oder Sand oder irgendein anderes Auftaumittel. Sie räumten die gesamte Fläche des Lagers. Sie wollten, dass sie so makellos aussah wie die Straße.
Die Hütten waren eigentlich Blockhäuser aus schon leicht grau gewordenen ungehobelten Balken. Nicht mehr ganz neu, aber auch nicht alt. Auf der linken Seite hinter der ersten Reihe machte Reacher das Dach eines alten Steingebäudes aus. Ein ziemlich flaches Dach, anscheinend mit Schiefer gedeckt, auf dem über ein halber Meter Schnee lag. Das Haus hatte zwei Zierkamine an den Giebelseiten. Die Hütten waren mit Dachpappe gedeckt. Sie besaßen Ofenrohre als Schornsteine. Ein Netz aus betonierten Wegen verband die Hütten miteinander. Auch die Wege waren schnee- und eisfrei. Vor den Hütten standen längliche Gebilde unter Planen aufgereiht. Vermutlich Motorräder. Große Maschinen. Mindestens dreißig. Bestimmt Harleys, die hier den Winter über abgestellt waren.
Reacher fuhr langsamer, bremste und hielt fünfzig Meter vor den ersten Bikern. Die Schneeschipper hatten als Erste zu arbeiten aufgehört und starrten seinen Wagen an. Behandschuhte Hände umfassten Schaufelstiele. Kinne ruhten auf Pelzhandschu hen. Die Streubrigade pausierte ebenfalls. Auch die Pick-ups kamen nacheinander zum Stehen. Der Wind trug ihren weißlichen Auspuffqualm mit sich fort.
Reacher nahm den Fuß von der Bremse und rollte langsam weiter. Keiner bewegte sich. Reacher fuhr auf die Männer in Schwarz zu, zehn Meter, dann zwanzig. Dann hielt er wieder. Er war nahe genug heran. Den Motor ließ er weiterlaufen. Das Thermometer des Crown Vic zeigte eine Außentemperatur von minus vierundzwanzig Grad an. Stellte er jetzt den Motor ab, würde er vielleicht nicht mehr anspringen. In einem Buch, das nördlich des Polarkreises spielte, hatte er gelesen, wie ein Motor mit einer Lötlampe aufgetaut werden musste.
Er stülpte sich seine Wollmütze über den Kopf und schlug die Kapuze darüber. Zog den Reißverschluss des Parkas bis unters Kinn hoch. Schlüpfte in seine Handschuhe.
Dann stieg er aus.
Zwanzig Meter vor ihm war die Menge inzwischen größer geworden. Männer, Frauen und Kinder. Insgesamt ungefähr hundert Menschen. Genau wie angekündigt. Sie waren alle unförmig, mit Daunenjacken, Schals und Mützen vermummt. Über ihren Köpfen bildete ihr Atem eine dünne Wolke, die vom Wind mitgerissen wurde. Die Kälte wirkte lähmend. Sie nahm weiter zu, schien von innen heraus anzugreifen. Reacher zitterte binnen fünf Sekunden vor Kälte. Nach zehn Sekunden war sein Gesicht taub. Er machte zehn Schritte auf die Biker zu, dann blieb er wieder
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