616 - Die Hoelle ist ueberall
missbrau-chen, um herauszufinden, von wo aus Audrey ihn per Handy angerufen hatte. Bis zu diesem Tag hatte Joseph nicht einmal von Fishers Island gehört. Dennoch hatte er es noch nie so eilig gehabt, irgendwohin zu kommen. Er war gerast wie ein Wahnsinniger, ohne auf der ganzen Strecke von Boston auch nur einmal den Fuß vom Gas zu nehmen. Er hatte Glück gehabt, dass er unterwegs nicht der Polizei oder einer Radar-falle begegnet war.
Die Stunden zerrannen ihm zwischen den Fingern. Zu der Verzögerung durch die verpasste Fähre kam noch die Zeit hinzu, die er mit der Suche nach Audreys möglichem Aufenthaltsort verbracht hatte. Joseph wusste nur, dass sie ihn von Fishers Island aus angerufen hatte, nicht aber, wo genau sie sich nun auf der Insel befinden mochte, falls sie überhaupt noch hier war.
»Sie ist immer noch hier«, sagte Joseph laut, die Zähne zusammengebissen, den Blick fest auf die kurvenreiche Landstraße geheftet.
Er war davon ausgegangen, dass es im Winter nicht viele Touristen auf Fishers Island gab. Deshalb hatte er gehofft, irgendein Ladenbesitzer oder der Inhaber eines Lokals würde sich an Audrey erinnern und könne ihm einen Tipp geben, was ihren Aufenthaltsort anging. In einem der Geschäfte, in denen er gefragt hatte – einem kleinen Supermarkt namens Village Market, dem einzigen auf der ganzen Insel – hatte ein Angestellter Audrey nach Josephs Beschreibung tatsächlich erkannt. »Hier kommt nicht jeden Tag so eine gutaussehende Fremde vorbei«, hatte der Mann gesagt. Er konnte Joseph aber nicht sagen, wo sie zu finden war, und riet ihm, bei der Küstenwache nachzufragen. »Die wissen, wer auf die Insel kommt und wer abfährt.«
So fand Joseph also heraus, dass Audrey tags zuvor in aller Herrgottsfrühe angekommen war und sich nach dem Haus des bekannten Kinderbuchautors Anthony Maxwell erkundigt hatte. In Ermangelung anderer Hinweise konnte Joseph nichts anderes tun, als zu Maxwells Haus zu fahren und zu hoffen, dass er Audrey dort fände.
Ihm blieb nicht viel Zeit, alle seine Sinne sagten ihm das. Sie riefen ihm zu, er solle sich beeilen. Joseph beschleunigte.
30
Madrid
Die spanische Nationalbibliothek hat ihren Sitz im Herzen Madrids und verfügt über einen der größten Buchbestände der Welt. Ihre Bedeutung ist vergleichbar mit der der be-rühmten spanischen Gemäldesammlung im Prado – und dies in einem Land mit einem der größten UNESCO-Weltkulturerbe-Bestände neben Italien, Griechenland, Frankreich, Mexiko oder China. Die Nationalbibliothek birgt echte bibliographische Schätze, darunter zwei Manuskripte von Leonardo da Vinci über Mechanik und Baukunst, das Manuskript des Cantar del Mío Cid und die Erstausgabe des Don Quijote de la Mancha. Auf den vielen hundert Regalkilometern lagern Bücher, die oftmals schon seit mehreren hundert Jahren nicht mehr aufgeschlagen worden sind. Es ist ein Universum des Wissens, dessen schiere Größe es möglich macht, auch auf Dinge zu stoßen, die verloren, vergessen, verborgen und zugleich für alle sichtbar sind, die Zugang zu den Beständen haben.
Albert Cloister war spät dran. Er hatte nicht mehr an die bereits sprichwörtlichen Staus der spanischen Hauptstadt gedacht. Sein Taxi rückte im Schneckentempo über den Paseo del Prado vor. Auf Höhe der Plaza de Cibeles bat Cloister den Taxifahrer anzuhalten, bezahlte seine Fahrt – die diese Be-zeichnung eigentlich nicht verdiente – und ging zu Fuß wei-ter. Es war ihm gleich, ob er auf diese Art schneller oder langsamer als mit dem Taxi sein würde. Er musste einfach der bedrückenden Enge dieser Sardinenbüchse inmitten des gi-gantischen Staus entfliehen.
Es war nicht ganz so kalt wie in Boston. In seinem dicken Mantel lief er mit seiner Aktenmappe zu einem der Seiteneingänge der Bibliothek. Von dort aus rief er per Handy seinen alten Weggenossen aus zahlreichen Nachforschungen an, der ihn drinnen bereits erwartete. Während das Freizeichen er-tönte, ging er weiter.
»Cecilio?«
Am anderen Ende der Leitung meldete sich Gracia.
»Bist du auch schon da?«
»Ja. Entschuldige die Verspätung.«
»Der Verkehr, nehme ich an.«
»So ist es. Ich komme durch die Glastür rechts herein.«
»Okay. Warte dort auf mich. Ich bin gleich bei dir.«
Cecilio war nach fünfundvierzig Sekunden in der Eingangshalle. Mit fröhlicher Miene streckte er Cloister seine rechte Hand entgegen. Sein Händedruck war ehrlich und fest. Seit über einem Jahr waren sie einander nicht mehr
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