66095: Thriller (German Edition)
mit losem Geröll, die nach Norden führte. Sie kniff die Augen zusammen, sah sich aufmerksam um und versuchte sich alles genau zu merken; dabei überlegte sie, was ihr Vater an ihrer Stelle getan hätte. Aber es war das erste Mal, dass Cricket allein in einer Höhle war, die sie noch nie zuvor betreten hatte. Ich bin erst vierzehn, schoss es ihr durch den Kopf. Doch dann erinnerte sie sich reumütig daran, dass sie zu ihrem Vater gesagt hatte: »Ich bin doch kein Kind mehr, Dad. Ich bin eine junge Frau.«
Plötzlich sehnte sie sich nach ihrer Mutter, bei der sie sich Rat hätte holen können; sie wollte ihr sagen, dass sie begriffen hatte, wie sich das Leben von einem Augenblick auf den anderen völlig verändern konnte. Einen entsetzlichen Moment lang konnte sie nur noch daran denken, dass sie sterben würde. Sie wusste, wie brutal Kelly war. Sie würde sterben, unausweichlich. Wenn sie doch Kelly durch ihr Pfeifen ins Jenseits befördern und dann ihren Dad aus Gregors und Lyons’ Händen befreien könnte!
Sie passierten einen Spalt in der Felswand, aus dem kristallklares Wasser hervorsprudelte, sich in ein Becken ergoss und dann in dünnen Rinnsalen in den Felsritzen versickerte. Cricket betrachtete ihr Spiegelbild im Wasser und erkannte sich kaum wieder. Es war zwar dasselbe Gesicht, aber sie war älter geworden. In den vergangenen zwei Jahren war das ihr sehnlichster Wunsch gewesen – für alt genug zu gelten, um auf sich selbst aufzupassen. Jetzt aber sehnte sie sich danach, ein Kind zu sein, das sich im sanften Schein der Glühwürmchen zwischen seine Eltern kuschelte.
Wusste sie überhaupt noch, wer sie war? Sie hatte nie in ihrem Leben jemandem wehtun wollen, und jetzt hätte sie diesen Kerl, wie zuvor schon Mann, am liebsten umgebracht. Sie schluckte.
Dann vernahm sie wieder diese merkwürdige Stimme, die sie als ihre eigene erkannte, nur dass diese Stimme jetzt reifer, härter, entschlossener war. Die Stimme sagte ihr, dass ein Mensch bisweilen unmenschlich handeln müsse, um zu überleben. Sie hatte ein Recht zu leben, ein Recht, das stärker war als alles andere. Worauf es letztlich ankam, war, dass sie und ihr Dad aus dieser Höhle herausfanden und zu ihrer Mutter zurückkehrten. Auf Kelly kam es nicht an. Auf Gregor und Lyons ebenso wenig. Cricket sagte sich, dass sie ihr merkwürdiges Spiegelbild im Wasser akzeptieren musste. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie war nicht mehr die kleine Cricket Burke, die begabte Sportlerin, die sich abmühende Schülerin, die sich danach sehnte, ernst genommen zu werden. Die vergangenen Tage, in denen sie zuerst den einen, dann den anderen Elternteil verloren hatte, hatten einen anderen Menschen aus ihr gemacht und ihr Liebe und Tod, Gut und Böse eindringlich vor Augen geführt. Einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, unter der Last dieser Erkenntnis zusammenzubrechen.
Sie rief sich ihre Eltern in Erinnerung, schulterte die Last und fand, dass sie sie tragen konnte. Spiel deine Stärken aus, dachte sie. Die Höhle war ihre, nicht Kellys Stärke. Sie bewegte sich darin geschickter als er. Er war stark, zweifellos, aber sie war schneller. Mit seinem Körperbau war er nicht gerade der geborene Sprinter.
Plötzlich hatte sie eine Idee. Es verschlug ihr den Atem, so unverfroren war dieser Plan. Sie blickte auf ihre Stiefel, dann warf sie einen Blick zurück zu Kelly. Er trottete hinter ihr her. Die Pistole hatte er in den Riemen seines Schleifsacks geschoben. Der Elektroschocksender baumelte an seinem rechten Arm.
»Ich muss mal«, sagte sie.
»Du warst doch erst vor einer halben Stunde pinkeln«, gab Kelly zurück.
»Ich bekomme meine Periode«, sagte Cricket und schob das Kinn vor.
Kelly kniff die Augen zusammen und spitzte die Lippen. »Du verscheißerst mich.«
»Nein«, sagte sie und zog einen Tampon aus der obersten Tasche ihres Schleifsacks. »Das muss ich einführen, sonst blute ich.«
»O mein Gott, erspar mir die Einzelheiten«, stöhnte Kelly, dann machte er ein strenges Gesicht und streckte den Arm aus: »Dann geh. Dort nach vorn, hinter die Wegbiegung.«
»Sie müssen zuerst den Gürtel aufschließen«, sagte sie.
Kelly sah sie forschend an. »Halt mich bloß nicht zum Narren, Mädchen.«
Ihr fiel ein, was eine Freundin einmal zu ihr gesagt hatte, als sie zum ersten Mal ihre Periode bekam: »Meine Unterhose ist klitschnass«, sagte Cricket.
»Verdammter Mist!«, murmelte Kelly. Er zog einen Schlüssel heraus und schloss den Gürtel auf.
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