66095: Thriller (German Edition)
das nächste Stockwerk überschwemmt?«, fragte Jeannie keuchend. Das Wasser, das unter ihnen im Kamin anstieg, hatte eine rötliche Färbung. Der untere Gang, in dem sie die Höhlenkrebse gezählt hatten, war bereits randvoll überflutet wie ein Siphon.
»Warten wir’s lieber nicht ab«, meinte Whitney.
Sie riss sich den Schleifsack herunter und rannte auf den 70 Meter langen Kriechgang zu. Am anderen Ende wartete der zweite Kamin, der einzige Weg auf die nächsthöhere Etage. In Seitenlage schoben sie sich in die Röhre hinein. Der Höhlenboden war mit zahllosen kammmuschelartigen Zacken gespickt, an denen Kleider und Stiefel hängen blieben.
Nachdem sie fünfzehn Minuten lang über den unebenen Boden gekrochen war, konnte Whitney nicht mehr und ließ sich schwer atmend auf die Seite fallen. Der Schweiß rann ihr in die Augen, brannte und legte einen gelben Schleier über die Welt. »Nur einen Augenblick.«
Jeannie war immer noch dicht hinter ihr und keuchte schwer. »Ruh dich kurz aus«, sagte sie. »Wir haben schon ein Drittel hinter uns. Wir schaffen es.«
Hier, nach etwa 30 Metern, war die Höhlendecke kaum zehn Zentimeter über ihren Köpfen und bis zur Seitenwand waren es gerade mal 15 Zentimeter. In der Enge des Gangs hatte das Licht der Stirnlampe eine beinahe hypnotische Wirkung. Whitney starrte ins Licht, und ihr fiel ein, dass sie Cricket am Abend zuvor beim Zubettgehen nicht gesagt hatte, wie lieb sie sie hatte. Und Tom war die ganze Woche zu Besprechungen in Houston gewesen, sie hatten kaum ein Wort gewechselt.
Dann sah Whitney aus dem Augenwinkel etwas, was alle Gedanken an Heim und Familie auslöschte. Unmittelbar vor ihr auf dem Höhlenboden befanden sich zwei dieser kammmuschelartigen Zacken. Schlammiges Wasser füllte die von den Zacken begrenzten halbmondförmigen Einbuchtungen. Das Wasser in der hinteren Vertiefung schwappte gegen die steinerne Begrenzung.
»Jeannie, kannst du schon weiter?«, rief Whitney.
»Lass mir noch eine kleine Pause«, erwiderte Jeannie immer noch atemlos.
Whitney warf einen Blick auf den Höhlenboden. Die beiden Pfützen hatten sich vereinigt, und diese neue Pfütze breitete sich unaufhaltsam über den Boden des Kriechgangs aus.
»Es ist im Gang!«, rief sie.
»Um Gottes willen, weiter!«, schrie Jeannie schrill. »Weiter!«
»Nein!«
Whitney sprang aus dem Bett und rannte auf den Flur, bevor sie überhaupt begriff, dass sie wach war. Der Geruch der überfluteten Höhle, der Gestank des Schlamms hing ihr noch in der Nase, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie hielt sich am Treppengeländer fest. »Du brauchst nicht mehr in die Höhle zu gehen«, flüsterte sie unter Tränen. »Nie mehr.«
Plötzlich merkte sie, dass die Morgensonne durch das Dachfenster oben im Treppenhaus fiel, und sie schüttelte verwirrt den Kopf. Nach einem weiteren fruchtlosen Tag im Büro war sie um fünf heimgekommen und hatte sich kurz hingelegt. Wie spät war es jetzt wohl?
Whitney hastete hinunter ins Wohnzimmer, wo die Großvateruhr stand, und sah entsetzt, dass es sieben Uhr morgens war. Sie hatte beinahe 14 Stunden geschlafen.
Hier unten lief nach wie vor lautlos der Fernseher, rechts NBC, links der Wetterkanal. Der Meteorologe deutete aufgeregt auf die große wirbelnde Wolkendecke über den Rocky Mountains. Whitney fand die Fernbedienung und stellte den Ton an. Im selben Augenblick blendete der Wetterkanal Werbung ein. Verärgert warf sie die Fernbedienung hin, wobei sie unbeabsichtigt den Ton von NBC anschaltete.
Whitney ging zum Computer und bewegte die Maus. Die Web-Seite des Nationalen Wetterdienstes erschien. Seit sie das letzte Mal nachgesehen hatte, waren die beiden Sturmfronten weitergewandert; das nördliche Unwetter tobte nun über Wyoming und bewegte sich auf einer Route nach Südosten, die ahnen ließ, dass es irgendwo über Arkansas mit dem zweiten Sturm kollidieren würde, der sich im nördlichen Texas zusammenbraute. Die lokale Vorhersage lautete: Der Hochdruckeinfluss lässt nach, weil instabile Luftmassen, die sich oberhalb der Plains bilden, ostwärts ziehen. In Ostkentucky kommt es zum Wochenende hin möglicherweise zu einer deutlichen Wetterverschlechterung.
In Gedanken hörte Whitney das Brausen des Wassers. Sie griff nach dem Telefon und wählte Toms Handynummer. Es klingelte mehrmals, dann …
»Hallo?«, rief Tom, im Hintergrund war ein Gespräch im Gang.
»Gott sei Dank erreiche ich dich.«
»Whitney?«
»Ja, Tom,
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