760 Minuten Angst
Oberfläche. Es währte nur Sekunden, dann wandte sich Valentina das Messer fest in der Hand von der Küchenzeile ab und verließ den Raum.
Allein ihr Ziel vor Augen überquerte sie den Flur und landete daraufhin ein weiteres Mal im Schlafzimmer, wo sie sich auf das ungemachte Bett fallen ließ. Sie saß am Rand der Matratze und sah direkt in die Spiegelfront des großen Kleiderschranks. Alles war vorbereitet.
Valentina konzentrierte sich nur noch auf ihr Spiegelbild. Nicht sie tat ab jetzt die Dinge, die da kommen mochten, sondern ihr Spiegelbild. Sie würde es Tina nennen.
Nun gut, Tina, was hast du jetzt vor? Was willst du mit diesem Messer anfangen, das in deiner Hand liegt? Was wirst du tun?
Der Spiegel verriet es ihr.
Tina war es, die den Griff um das Messer festigte. Tina war es, die die scharfe Seite in ihre Richtung drehte. Tina war es, die langsam und vorsichtig die Klingenspitze an ihre linke Wange setzte.
Sie ist kalt , dachte Valentina. Tina hingegen war es vollkommen egal. Sie machte einfach weiter.
Tina gab der Klinge einen sanften Druck. Valentina konnte den Schmerz spüren. Er war schnell, stach und brannte. Tina interessierte es nicht. Tina machte weiter.
Tina machte sich bereit, sammelte all ihren Mut und dann, mit nur einem einzigen, kräftigen Schwung riss sie das Messer und die Klinge in die Höhe.
Valentina schloss die Augen. Tina ertrank im Schwarz. Doch der Schmerz blieb. Der Schmerz war unendlich.
Wie der Schrei, der durch das Schlafzimmer hallte.
Sie hätte ihn auch gehört, wenn er die Haustür nicht mit einem lauten Knall zugeschlagen hätte. Zum Glück war das Abendessen vor seinem Eintreffen fertiggeworden.
Noch ehe ihr Papa die Küche betrat, verfrachtete Emilie die beiden Schnitzel samt den Kroketten auf zwei Teller und stellte sie auf den gedeckten Tisch. Dann stand auch schon ihr Papa auf der Türschwelle. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände und Emilie wich aufgeschreckt zurück. Sie wollte seine Wut nicht zu spüren bekommen.
Nicht heute. Bitte lieber Gott, nicht heute.
»Gibt‘s essn?«, fragte ihr Papa schroff und ohne vorherige Begrüßung. Emilie hatte auch keine erwartet.
»Ja, Papa. Natürlich«, antwortete sie hastig und wartete, dass er Platz nahm.
Torkelnd und schwerfällig setzte er sich kurz darauf in Bewegung. Irgendwie schaffte er es, die Lehne des Stuhls zu greifen und sich hinzusetzen. Erst dann wagte es Emilie, ebenfalls am Esstisch Platz zu nehmen.
»Guten Appetit«, flüsterte sie und wartete abermals, bis ihr Papa mit dem Essen begann.
»Was‘n das für‘n Fraß?«, nuschelte ihr Papa, ehe er überhaupt probierte.
»Jägerschnitzel mit Kroketten, Papa. Aber das essen wir doch nicht zum ersten Mal.«
»Willst mir blöd kommn?!« Schlagartig wurde er lauter. »Meinst etwa, ich wüsst das net?«
»Nein, nein«, entschuldigte sich Emilie und hob beschwichtigend die Hände. »Ich wollte nicht unhöflich sein. Entschuldige … es tut mir leid.«
»Ja, ja … passt scho.«
Für ihren Papa schien das Thema bereits vom Tisch, schließlich schnitt er sich gerade ein Stück vom Schnitzel ab, um darauf herum zu kauen. Während ihr Papa schmatzte, begann auch Emilie zu essen.
»Wie war es in der Arbeit?«
Emilie stellte diese Frage jeden Abend und bekam jeden Abend die gleiche Antwort. So auch heute.
»Hat scho passt.«
»Freut mich.«
Sie setzte ein falsches Lächeln auf. Ihr Papa bemerkte den Unterschied sowieso nicht.
»Schmeckt es dir?«
»Ja.«
Er hatte eindeutig getrunken. In letzter Zeit kam es immer häufiger vor, dass er bereits in der Arbeit damit anfing. Emilie war es gewohnt, dass er sich abends ein paar Bier gönnte, aber seit er damit begonnen hatte, auch während der Arbeitszeit zu trinken, machte sie sich ernste Sorgen, wo das alles hinführte.
»Freut mich.«
Wieder dieses falsche Lächeln.
Das restliche Abendessen verlief ohne weitere Konversation und Emilie hatte schon die Hoffnung gehegt, dass heute ein guter Tag sei, als sie bei den letzten Bissen plötzlich lauthals niesen musste. Sie hatte nicht einmal mehr die Zeit gehabt, sich die Hand vorzuhalten.
»Spinnst du?!«, brüllte ihr Papa und sah sie hasserfüllt an. »Rotzt volle Kanne in mein Essn. Sag mal, geht’s noch?!«
»Es … es tut mir leid … Papa.«
»Es tut mir leid, Papa«, äffte er seine Tochter nach. »Sag bloß, du hast die ganze Zeit in mein Essn gerotzt?«
»Nein … Papa … natürlich nicht. Ich …«
»Schnauze!«
Er sprang auf, warf
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