760 Minuten Angst
weinen, wäre es ein Zeichen, dass sie Sarah aufgegeben hatte und das wollte sie nicht. Sie würde ihre Freundin retten, egal was es kostete. Und auch wenn Valentina es noch nicht wusste, der Preis war immens!
Sie entschied sich dafür, jeden Raum nacheinander abzusuchen. Wenn sie bis jetzt eines gelernt hatte, dann, dass »C« sie bisweilen immer an den richtigen Ort gelotst hatte. Diesmal würde es nicht anders sein.
Hinter der ersten Tür befand sich das kleine Badezimmer. Da waren Badewanne samt Duschvorhang, Waschbecken und Badeschrank. Mehr gab es nicht zu sehen. Alles so, wie Valentina es kannte. Kein Hinweis von »C«.
Tür Nummer Zwei brachte sie ins Schlafzimmer. Nun ja, was gab es zu sagen? Ein Bett, ein Nachtkästchen und einen üppigen Kleiderschrank mit Spiegelfront. Als sich Valentina darin betrachtete, bekam sie einen regelrechten Schock.
Zwar fühlte sie sich bereits wie ein geistiges Wrack, aber ihr Körper hatte sich perfekt angepasst. Ihr Gesicht war blasser als sonst und ihre Augen trüb und mit dicken Augenringen versehen. Ein Zombie war nichts dagegen. Als hätte Valentina drei Tage ohne Schlaf durchgefeiert.
Wenn es doch nur so wäre.
Es folgte die Küche, die gleichzeitig als Esszimmer herhalten musste, obwohl kaum Platz für den schmalen Tisch und die beiden klapprigen Stühle war. An der linken Wand befand sich die Küchenzeile, wie man sie aus unzähligen Wohnungen her kannte. Nichts Besonderes, aber auch nicht schäbig.
Valentina wollte bereits umkehren, als ihr doch noch ein kleines Detail auffiel, das nicht üblich war. Anfangs sah sie lediglich die rosafarbene, gefaltete Serviette auf dem Eichentisch und erst bei genauerer Betrachtung fiel ihr die Postkarte darin auf. Seine Postkarte!
Mit schnell schlagendem Herzen ging sie auf den Tisch zu. Mit weichen Knien ließ sie sich auf einen der Stühle fallen. Mit zittriger Hand nahm sie die Nachricht entgegen. Mit angstgeweiteten Augen las sie die Zeilen.
Liebe Valentina,
Ich habe die Küche aus einem ganz bestimmten Grund für dich gewählt. Ich weiß nicht, ob du es verstehen wirst, warum ich das von dir verlange, aber am Ausgang ändert es sowieso nichts.
Nun zu deiner Aufgabe, Valentina. Such dir eines der Messer aus und schneide dir selbst eine lange Narbe ins Gesicht. Der Rest wird folgen.
Viel Glück, »C«
Ihre Pupillen überflogen immer und immer wieder die einzelnen Worte, ohne damit aufhören zu wollen. Nachdem sie das Ende erreichten, fingen sie sofort wieder von vorne an. Valentina wollte einfach nicht glauben, was sie da gerade las. Sie hoffte inständig, dass sich die Buchstaben neu ordnen würden, wenn sie sie nur lang genug betrachte. Natürlich erfüllte sich ihr Wunsch nicht.
»Cs« Befehle waren eindeutig. Sie, Valentina, sollte sich eines der schönen, silberglänzenden Messer aus den Schubladen aussuchen und sich daraufhin genüsslich mit der scharfen Klinge das Gesicht aufschlitzen. Oder sollte sie lieber den Messerblock wählen?
Wahnsinn!
Dieses Wort wanderte durch ihren Kopf, als Valentina über ihre erste Prüfung nachdachte.
Wahnsinn, weil sie fand, dass »C« wahnsinnig war und Wahnsinn, weil sie fand, dass sie langsam wahnsinnig wurde. Wahnsinn war das Bindeglied, das alles zusammenhielt. Nur nicht ihren Verstand.
Sie wollte nicht einfach dasitzen und nichts tun. Ihr Körper sagte ihr bereits, dass sie das Falsche tat, dass sie etwas unternehmen musste, doch ihr Verstand, zumindest das, was davon noch übrig war, nicht. Ihr Verstand war auf Valentinas Seite und entließ sie in ihre Traumwelt, wo es keinen »C« und keine Schnitzeljagd gab.
Doch der Traum verkam mehr zur Erinnerung. Valentina war noch ein Kind. Wie alt mochte sie gewesen sein? Sie vermutete, dass es in der ersten oder zweiten Klasse gewesen sein musste. Genauer konnte sie es nicht sagen. Sie war auf jeden Fall noch ein Kind gewesen. Es war zur Pause geläutet worden und sie war dem Ruf gefolgt.
Auf dem Pausenhof inmitten des Schulgeländes hatte sie sich unter den Schatten eines Baums gesetzt und genüsslich ein selbstgemachtes, belegtes Brötchen gegessen. Valentina erinnerte sich noch gut daran, dass sie meistens alleine aß. Sie hatte eigentlich keine Freunde.
Valentina war ein nettes Mädchen, aber auch sehr verschlossen. Sie konnte sich anderen Menschen nicht öffnen, was womöglich daran lag, dass sie eben sehr von sich selbst überzeugt war und die anderen Kinder damit nicht umgehen konnten. Sie fanden sie
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