77 Tage
Pullovers gepackt und zog mich durch die automatisch aufschwingende Eingangstür.
»Heh – hallo?« Die Dame mit der Prinz-Eisenherz-Frisur sprang hinter dem Empfangstresen in die Höhe. »Die Besuchszeit ist gleich vorbei, Herr Danner! Ich denke, es lohnt nicht …«
Wieso kannte Prinz Eisenherz Danners Namen?
»Keine Sorge, dauert nicht lange«, knurrte Danner und die Frau setzte sich prompt wieder auf ihren Hintern.
In einem geräumigen Aufzug fuhren wir in den zweiten Stock. Pflegestation stand neben dem leuchtenden Knopf, den Danner zielstrebig drückte. Offensichtlich kannte er sich hier aus.
»Du warst schon mal hier?«
»Leider.« Danners Spiegelbild starrte aus der Aufzugwand. Mit dunklem Parka, schwarzer Mütze und verschränkten Armen stand er neben mir, als wäre er auf dem Weg zu einem Begräbnis. »Ich hätte lieber drauf verzichtet.«
Ich verstand nicht, und das sah man mir an. Mein Spiegelbild sah zum Kotzen aus. Mein Gesicht war klein und bleich, mit spitzem Kinn und großen, verschreckten, blauen Augen. Meine zu kurzen, blonden Haare strubbelten sperrig in alle Richtungen und dachten gar nicht daran, meine jämmerlichen Miene zu verstecken. Ein zitterndes Häuflein Elend, genau wie mein Vater mich haben wollte.
Mit einem sanften Gong öffnete sich die Fahrstuhltür und wir standen in dem langen Flur von Station 3. Eine Pflegestation mit Krankenhausflair. Glastüren, weiße Wände, abwischbarer PVC-Boden und flimmernde Neonbeleuchtung.
Danner öffnete die dritte Tür links, neben der ein Plastikschild mit der Nummer 303 hing.
Das Zimmer war dunkel und leer. Wolken und Regen verschluckten das letzte Tageslicht, das sonst durch das Fenster auf ein ordentlich aufgeschlagenes Bett mit weißen Laken gefallen wäre.
Danner schaltete die Deckenleuchte ein, deren Energiesparlampe ein schwächliches, fahles Licht aufflimmern ließ.
Erst jetzt bemerkte ich den Mann, der bewegungslos in einem Rollstuhl an dem kleinen Tisch saß. Sein Kopf hing schief zur Seite, sein Mund stand offen. Strähnige, graue Haarreste fusselten in sein eingefallenes Gesicht. Vor ihm stand eine halb gefüllte Plastiktasse. Es roch nach kaltem Kaffee. Der Mann sah aus, als hätte er sich schon eine Weile nicht mehr bewegt.
Die Bilder der toten Frau Küppers im Sessel zuckten durch meinen Kopf. Und Agi Friedlich im weißen Kittel mit einer überdimensionalen Spritze in der Hand.
Aber die Theorie hatte Schwächen. Vorstellbar, dass Agi Friedlich aus Mitleid tötete. Doch warum Männer? Hatte Danner den Grund herausgefunden? Oder hatte er die Pflegerin auf frischer Tat ertappt? Womöglich bei diesem Patienten?
In dem Moment hustete der Mann im Rollstuhl röchelnd. Tot war er also nicht. Noch nicht. Noch nicht so ganz. Doch inzwischen hatte ich genug Erfahrung in der Pflege gesammelt, um zu wissen, dass dieser Mann nicht ansprechbar war.
»Jetzt spuck es endlich aus«, motzte ich ungeduldig. »Was machen wir hier? Geht es um den Fall? Hast du was Neues rausgefunden?«
»Ich hab geschwänzt, gestern und heute.«
»Wie bitte?«
»Statt zu ermitteln, war ich hier.« Danner ließ die Hände in den Jackentaschen vergraben. Mit einem knappen Kopfnicken deutete er auf den Alten im Rollstuhl: »Das ist Gerhard Danner.«
Häh?
»Mein Vater.«
»Wow.«
Danner zuckte die Schultern: »Ich schätze, er ist der Grund, aus dem ich keinen Bock auf den Fall hatte. Ich wollte nicht daran erinnert werden, dass es ihn gibt.«
Der Mann im Rollstuhl wandte Danner jetzt den Kopf zu. Es sah aus, als würde er den Worten seines Sohnes mit offenem Mund lauschen.
»Er leidet am Korsakow-Syndrom, alkoholbedingter Gedächtnisverlust.«
Ich musterte Danner nachdenklich. Doch seine Miene verriet nicht, wie er sich fühlte. Das war seine Mauer. Aber er hatte beschlossen, mich hinübersehen zu lassen, begriff ich.
»Wir kamen nie besonders gut miteinander klar. Mit achtzehn bin ich zu Hause ausgezogen, seitdem hatten wir keinen Kontakt mehr. Vor sechs Jahren hat mich das Sozialamt daran erinnert, dass es ihn noch gibt. Denn er hatte den letzten Rest seines Gehirns versoffen. Und weil er sich die Rundumversorgung hier natürlich nicht leisten kann, bittet das Amt mich zur Kasse.«
»Obwohl du gar keine Beziehung zu ihm hast?«
»Ich bin Verwandter ersten Grades. Unterhaltspflichtig. Dreitausendzweihundert Euro kostet der Heimplatz im Monat. Kann mich nicht erinnern, dass ich schon mal so viel verdient hätte. Aber alles, was über den
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