9 - Die Wiederkehr: Thriller
Klassenkameraden hatten das dem Mädchen zugeschrien, das verzweifelt das Tischbein umklammert hatte. Die Stimmen in Amadors Kopf schwollen an. Alma hat ’ne Meise! Er hätte sich gern die Ohren zugehalten. Doch dann hätte er Leo nicht mehr umarmen können, der sich zitternd an ihn schmiegte.
»War das alles gelogen?«, stammelte der Junge in die Brust seines Vaters.
Den überwältigenden Chor der Kinderstimmen im Kopf drückte Amador seinen Sohn an sich. Dann war aus dem Gegröle eine tiefere Stimme, die eines Erwachsenen, herauszuhören. Alma hat ’ne Meise! Es war seine eigene Stimme, die die Parole wiederholte, mit der er Alma so oft zum Weinen gebracht hatte. Alma hat ’ne Meise! Auf einmal verzerrten sich die vielen Kinderstimmen. Wurden lang gezogen und leiser. Immer lang gezogener und leiser. Bis sie verstummten. Bis sie verstummten und nur noch die tiefe Stimme zu hören war. Bis Amador gezwungen war, seine eigene Stimme zu hören.
Dein Sohn hat eine Meise, hörte er sich selbst sagen.
Abrupt riss sich Amador von Leo los. Ließ ihn stehen und neben Victoria auf den Boden starren, die ihrerseits in die Luft starrte. Amador aber lief zurück zum Wagen, schlug die beiden Türen zu, die offen gestanden hatten. Der Warnton verstummte. Dann ging er den BMW entlang, lehnte sich an den Kofferraum. Und ließ sich dann fallen.
Amador hockte sich auf die Erde, damit sein Sohn ihn nicht weinen sah.
Leo wollte einen Fuß vor den anderen setzen und zum BMW gehen. Seine Mutter hielt ihn an der Schulter fest.
»Lass ihn kurz allein«, sagte sie. »Denk doch nicht immer nur an dich.«
Von seinem Wagen aus beobachtete der Mann mit den Krücken die Szene. Als er den Jungen und seine Eltern zurück zum BMW gehen und die Tankstelle verlassen sah, ließ er den Wagen an und fuhr ein paar Meter, um die Krücke erreichen zu können, die ihm weggerutscht war. Er packte sie.
Er war nun froh darüber, nicht schnell genug aus dem Auto gekommen zu sein, um den Jungen aufzuhalten. Und darüber, wegen des Telefons abgelenkt gewesen zu sein und nicht gesehen zu haben, wie er zurück zum Laden gegangen war.
»Das alles war von Anfang an absurd«, sagte er.
Dann bückte er sich, tastete nach dem Handy und holte es zwischen den Pedalen hervor.
21
AARÓN
Sonntag, 11. Juni 2000
Mit quietschenden Reifen verließ Aarón den Parkplatz der Universitätsklinik von Arenas. Ein Mann in Grün rannte hinterher. Dann blieb er stehen, reckte nur noch die Arme in seine Richtung. Aarón brach in Gelächter aus, ein gewollt überreiztes, verzerrtes Lachen. Ohne auf die Geschwindigkeit zu achten, kehrte er auf derselben Straße zurück. Im Rückspiegel vergewisserte er sich, dass ihm der Polizeiwagen vom Parkplatz vor dem Krankenhaus nicht folgte. Der zweite Lachanfall blieb ihm im Halse stecken. Aarón durchfuhr ein entsetzlicher Gedanke.
An dem Tag wurde kein Kind geboren.
Das hatte der Mann an der Aufnahme im Krankenhaus gesagt. Aarón blinzelte heftig und schüttelte den Kopf.
»Das kann nicht sein!«, schrie er in den Wagen hinein.
Er könnte woanders geboren worden sein, war der nächste Gedanke. Angesichts der Tatsache, dass er unmöglich bei sämtlichen Krankenhäusern des Landes nachfragen konnte, zwang er sich, den Gedanken zu verwerfen.
Er bekam ein flaues Gefühl im Magen. Unzählige Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Es wurde immer heller, so schien ihm, und er klappte die Sonnenblende herunter. Unwillkürlich ging er die Zahlen auf den Papieren auf dem Tisch im Wohnzimmer gedanklich noch einmal durch. Zahlen und Rechenfolgen drangen auf ihn ein und durchströmten ihn wie ein Meteoritenregen. Dann duftete es nach Kamille.
Ihm fiel wieder ein, dass Palmer ihm vorhin sein Geburtsdatum genannt hatte: der 10. März 1947.
»Das kann nicht sein!«, schrie er erneut. »Es hat doch alles übereingestimmt!«
Alles? Irgendwo in seinem Kopf flammten Zweifel auf.
Er war jetzt an der Hauptstraße von Arenas und kreuzte sie. Vor der Schule musste er anhalten, weil ihm ein Mann mit nacktem, sonnenverbranntem und weiß behaartem Oberkörper ein Stoppschild hinhielt. Hinter ihm waren zwei andere Männer dabei, eine Ampel neben dem Zebrastreifen aufzurichten. Aarón blickte zur anderen Straßenseite hinüber. Eine zweite Ampel lag dort auf dem Bürgersteig und wartete darauf, aufgestellt zu werden. Das Rauschen, das die vielen Bilder und Zahlen in seinem Kopf verursachten, war fast hörbar geworden. Er presste die Handflächen auf die
Weitere Kostenlose Bücher