9 - Die Wiederkehr: Thriller
hatte.
Mehrere Minuten lang sahen Amadors geöffnete Augen gar nichts.
Er sah nicht, wie Victoria den Laden betrat.
Sah Andrea nicht, die sich die Haare raufte und dann zur Seite kippte.
Amador sah nichts, bis die Sirene eines Krankenwagens, der vor ihm auftauchte, irgendeinen Schalter in seinem Hirn umlegte und ihn in die Wirklichkeit zurückbeförderte.
Eine Wirklichkeit, von der er wusste, dass sein Sohn nicht mehr in ihr existierte.
Er schrie.
Die Autotür öffnete sich. Amador ließ sich buchstäblich aus dem Wagen fallen und schlug seitlich auf dem heißen Asphalt auf. Der Schmerz ließ ihn erneut aufschreien.
Dann hörte er ein dumpfes verzerrtes Echo.
»Leo!«
Amador hörte sich selbst den Namen seines Sohnes schreien.
EPILOG
Montag, 21. September 2009
Eine Woche später erst betrat Victoria das Zimmer.
Eine unbestimmte Zeit lang hatte sie an der Tür gestanden und nicht hineinzugehen gewagt. Irgendetwas tat sich in der Luft, sobald sie die Schwelle überschritten hatte, etwas Elektrisierendes, bei dem sich ihr alle Härchen auf der Haut aufstellten. Direkt hinter dem Ohr glaubte sie ein dunkles Raunen zu hören. Tatsächlich war es absolut still. Über dem Knauf am Kleiderschrank hing eine Schuluniform. Auf dem Bett war noch die Kuhle zu sehen, wo Leo zum letzten Mal gesessen hatte. Victoria umfasste ihren Hals und legte die Oberarme auf die Brust. Wieder verstrich ein unbestimmter Zeitraum, in dem sie mit verlorenem Blick dastand, wie so oft in den vergangenen sieben Tagen. Da machte sie eine Entdeckung. Sie trat auf den Balkon und nahm das Teleskop. Sie wollte es zusammenstecken, wusste aber nicht, wie, und musste sich bremsen, um es nicht zu Boden zu schleudern. Sie ließ es einfach, wie es war.
Zurück im Zimmer ging sie auf das Bett zu, bückte sich und packte die Decke. Einen Moment lang betrachtete sie die Delle im Stoff. Eine flüchtige Vision Leos, wie er mit dem Rücken an der Wand lehnte und ein Buch las, erschien vor ihren Augen, doch sie wehrte sie ab, bevor … Ein kräftiger Zug, und der Stoff glättete sich vollständig. Der eingebildete Leo löste sich auf. Victorias Lider brannten. Bevor sie sich aufs Bett setzte, klopfte sie es ein wenig ab. Aufrecht sitzend verschränkte sie die Beine, stützte den Ellbogen auf das Knie und legte das Kinn in die rechte Hand. Mit zwei Fingern presste sie die Lippen gegen die Zähne. Der Kloß im Hals schmerzte bis zum Nacken. Erst als ihr die Tränen auf die Wade tropften, merkte sie, dass sie schon wieder weinte.
In dem Moment bemerkte sie etwas auf der Decke direkt neben ihr. Sie hob es auf und ließ es spielerisch durch die Finger gleiten. Es war winziger weißer Plastikring.
Irgendwann hörte sie ein leises Klopfen an der Tür.
»Señora?«
»Bleib draußen.«
Victorias Stimme klang bestimmt. Ihre Tränen waren getrocknet und bildeten eine salzige Schicht auf ihrem Gesicht. Als sie zur Tür sah, stand Linda da, mit gesenktem Blick, da sie nicht wagte, Victoria in die Augen zu sehen.
»Ich gehe jetzt, Señora.«
»Du hättest dich nicht verabschieden brauchen. Lass deinen Schlüssel in der Küche liegen und geh einfach.«
Da klingelte es unten an der Tür.
»Kommt dich jemand abholen?«, fragte Victoria.
Linda schüttelte den Kopf. Sie wich einen Schritt zurück, als sie merkte, dass Victoria auf sie zukam. Diese schlug heftig die Zimmertür hinter sich zu.
»Mach nicht auf. Geh hinten raus, durch den Garten.«
»Señora, es tut mir leid …«
»Zu spät.«
Und es war zu spät. Fünf Nächte lang hatte die Sache mit dem zweiten Brief, das weiße Kuvert, das sie aus dem Briefkasten genommen und Leo hinter dem Rücken seiner Eltern gegeben hatte, Linda den Schlaf geraubt. Dann hatte es ihr auf der Zungenspitze gebrannt. Und dann hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Am sechsten Tag, den Leo nicht mehr erlebte, hatte sie es Amador gestanden. Hatte ihm erzählt, dass sie einen weiteren an den Jungen adressierten Brief in der Post gefunden hatte, an dem Morgen, als der Kater beim Frühstück auf den Tisch gesprungen war und den Teppich der Señora beschmutzt hatte. Sie hatte den Brief versteckt und ihn Leo unten, in der Waschküche, gezeigt. Sie habe ihn nur beschützen wollen und ihn auch davon abzuhalten versucht, ihn zu öffnen, doch Leo hatte ihn sofort aufgerissen. Es habe das Gleiche daringestanden wie im ersten Brief. Sie wusste nicht, was er dann mit ihm gemacht habe. Und sie …
Amador hatte sie nicht ausreden lassen. Er
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