9 - Die Wiederkehr: Thriller
du diesen Buchstaben hier anfängst und abschließt. Leo, du musst dir das jetzt ansehen und uns die Wahrheit sagen.«
»Papa, ich war’s nicht.«
Der Druck der Fingernägel auf seine Hand verstärkte sich.
»Leo, schau dir die Ps, die Ms und die Qs an«, fuhr Victoria fort. »Und das ist nicht nur uns aufgefallen. Ein Arbeitskollege von Papa sieht das ganz genauso. Wir waren gerade bei ihm.« Victoria wandte sich an ihren Mann. »Stimmt’s, Amador?«
Leo hörte seinen Vater seufzen.
»Der Grafologe aus seiner Kanzlei«, erklärte sie weiter, als Amador nicht aufblickte. »Der gute Mann hat, lass mich überlegen, keine zehn Sekunden gebraucht, um unseren Verdacht zu bestätigen.«
Mit der freien Hand schob sie Leo den Brief und das Schulheft unter die Nase. Dann beugte sie sich vor und führte ihr Gesicht ganz nah an das ihres Sohnes heran. Es war kaum mehr als ein Flüstern, als sie sagte:
»Obwohl du dich mit der Grafologie ganz gut auszukennen scheinst. Hab ich recht, Schatz?«
Der Druck auf sein Handgelenk nahm wieder zu. Die Fingernägel fühlten sich an wie Nadeln. Leo schüttelte den Kopf. Er weigerte sich zu antworten.
»Mein Lieber, wir wollen dir doch nur helfen.«
Angesichts dieser Behauptung wäre Leo am liebsten in lautes Gelächter ausgebrochen. Aber das Lachen erstickte in seiner Kehle. Als gehörten auch seine Eltern zu der grausamen Bande, die sich an verregneten Nachmittagen die Hände in Matschpfützen dreckig machten, um sie ihm dann auf sein weißes Hemd zu drücken. Er malte sich aus, wie ihm sein Vater mit der Hand auf den Rücken schlug, sodass ihm der braune Schlamm bis in den Nacken spritzte. Seine Mutter lachte ihn aus und stimmte gemeinsam mit den anderen Kindern das neueste Schmählied an. Wenn seine Eltern wirklich glaubten, dass er selbst der Verfasser des Briefes war, dass er imstande war, sich das alles auszudenken, dann unterschieden sie sich in nichts von den anderen, die ihn jeden Tag alleine am Eingang der Schule stehen ließen oder ihn zum Abschied mit Papierkugeln beschossen. Manchmal mit kleinen Steinchen darin.
Ohne den Blick von seiner Mutter abzuwenden, versuchte er die Hand aus ihrem Griff zu befreien.
»Die Schrift in deinem Heft ist die gleiche wie in dem Brief. Ob es dir passt oder nicht«, sagte Victoria. Dann ließ sie von seiner Hand ab. Sie zuckte mit den Schultern, ein Ausdruck von Nervosität, die sie versuchte zu verbergen.
Leo spürte ein heißes Kribbeln, als das Blut in seine taube Hand zurückfloss, und massierte sich die Handfläche mit dem Daumen der anderen Hand. Auf der gläsernen Tischplatte zeichneten sich die feuchten Umrisse einer dritten Hand ab, die langsam von außen nach innen wieder verschwand.
»Leo, so kommst du uns nicht davon. Du wirst uns jetzt auf der Stelle erklären, was es mit dieser ganzen Sache auf sich hat«, fuhr Victoria fort. »Es ist ganz normal, dass sich ein Junge wie du …« Sie hielt einen Augenblick inne, auf der Suche nach einer angemessenen Definition. »… ein schlauer Junge wie du im Unterricht langweilt und seine Fantasie spielen lässt. Vielleicht ist das alles nur …«
Ihr fehlten die Worte, um den Satz zu beenden. Der Mund stand ihr noch ein paar Sekunden offen, der Gedanke schien irgendwo auf halbem Weg zwischen Gehirn und Stimmbändern festzustecken. Gerade als es so aussah, als würde sie nichts mehr sagen, wurde die unterbrochene Verbindung wiederhergestellt, und sie wandte sich zu ihrem Ehemann um.
»Sag doch auch mal was«, sagte sie.
Amador antwortete nicht.
Leo nutzte die Pause, um sich schnell in sein Zimmer zu flüchten.
Er sperrte sich für den Rest des Nachmittags in seinem Zimmer ein und verbannte den Zwischenfall mit seinen Eltern aus seinen Gedanken. Auf gar keinen Fall wollte er sich diesen Abend verderben. Wenn die Zeitungen und die Leute, mit denen er im Internet chattete, sich nicht täuschten, würde der Perseidenstrom von 2008 der eindrucksvollste seit Jahren sein. In den Medien war der Sternschnuppenregen für den Morgen des dreizehnten August angekündigt. Bis dahin waren es nur noch wenige Stunden.
Als die Abenddämmerung hereinbrach, drückte Leo auf den Knopf, um den Rollladen hochzulassen, öffnete die Balkontür und stellte das Teleskop auf die Markierung: zwei schwarze Klebestreifen in X-Form. Leo hatte es vor ein paar Tagen mit seinem Vater genau berechnet. »Wenn du E.T. siehst, gib mir Bescheid«, hatte Amador gesagt, als sie gerade das Teleskop justierten und
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