9 - Die Wiederkehr: Thriller
12. August 2008
Victoria und Amador saßen nebeneinander am Tisch und sahen Leo eindringlich an, als er die Küche betrat. Ein flüchtiger Blick genügte ihm, um festzustellen, dass seine Mutter das rote Heft, das von einem Tag auf den anderen aus seiner Schultasche verschwunden war, vor sich auf dem Tisch liegen hatte. In den Fingern seines Vaters wippte der Luftpostumschlag.
»Setz dich, wir müssen mit dir reden.«
Victoria deutete mit dem Kinn auf einen Stuhl.
Leo setzte sich seinen Eltern gegenüber. Mit einer geschickten Handbewegung und ohne die aufgestützten Ellbogen vom Tisch zu nehmen, drehte Victoria das Heft herum und schlug die Seite auf, die sie mit einem gelben Merkzettel markiert hatte. Sie schob es Leo hin. Auch diesmal hob sie die Ellbogen nicht an, sondern ließ sie über die Tischfläche gleiten wie eine lauernde Kobra.
Amador zog den vom wiederholten Lesen abgegriffenen Brief aus dem Umschlag. Er legte ihn auf eine der karierten Heftseiten unmittelbar neben die Darlegung eines mathematischen Problems, an dessen Ergebnis sich Leo erinnerte, ohne dass er es wollte. Es fiel ihm nicht schwer zu begreifen, worauf sie ihn aufmerksam machen wollten. Er hielt dem Blick seines Vaters stand. Das Heft und den Brief beachtete er nicht.
An jenem Abend vor gut drei Wochen, als der Umschlag aufgetaucht war, hatte sich Leo die Bettdecke bis zur Nase hochgezogen und die Sterne betrachtet, die über ihm an der Zimmerdecke leuchteten. Zuerst hatte er seinen Vater heraufkommen hören. Das Knarren der Holzdielen unter seinem Schritt war unverkennbar. Dann stieg Victoria die Treppe herauf, leichtfüßig und mit kleinen Schritten glitt sie über den Boden dahin. Leo bemerkte, wie sie sich seiner Zimmertür näherte. Einen Augenblick lang herrschte Stille. Kurz darauf verriet ihm das leise Quietschen einer Türklinke, dass sie ins Schlafzimmer gegangen war. Dann begann die Auseinandersetzung, von der er nur den einen oder anderen helleren Laut hörte, der durch zwei Türen und einen Flur zu ihm herüberdrang. Von Zeit zu Zeit spitzte sich der Ton der Unterhaltung zu. Leo zog sich die Bettdecke über den Kopf. Als er gerade glaubte, seine Eltern hätten aufgehört, sich anzuschreien, sank er unwillkürlich in einen leichten Schlaf, der so empfindlich war wie die Oberfläche einer Seifenblase. Doch dann verdichtete sich die Blase zu einem Tropfen, der auf einen imaginären Boden hinunterfiel, und Leo glaubte die Gestalt seiner Mutter auszumachen, die auf leisen Sohlen durch sein Zimmer schlich, bis er sich in der öligen Unwirklichkeit eines neuen Traumes wiederfand. Am nächsten Tag fehlte in seinem Astronautenrucksack eins der drei Schulhefte. Das rote. Jetzt wusste er, wo es hingekommen war.
»Worum geht es?«, fragte er.
»Hör zu«, sagte Amador. Der argwöhnische Blick seines Sohnes gefiel ihm nicht. »Schau mal hier in dein Heft, Leo, und dann schau dir den Brief an. Ich bin mir sicher, dass es auch dir sofort ins Auge springt.«
Leo musste nirgendwohin schauen, um zu kapieren, was los war.
Angesichts der Demütigung, die ihm von seinen eigenen Eltern zuteilwurde, zog er es vor zu schweigen und vom Tisch aufzustehen. Amador wandte den Blick ab. Er fühlte sich unbehaglich.
Als er sich gerade erheben wollte, merkte Leo, wie sich die Finger seiner Mutter um sein rechtes Handgelenk schlossen.
»Du bleibst jetzt mal schön hier«, sagte sie.
Ihre langen Fingernägel bohrten sich in Leos blasses Fleisch. Er beschloss, den Schmerz zu ignorieren.
Er suchte vergeblich den Blick seines Vaters, der so tat, als betrachtete er irgendein unwichtiges Detail auf der Tischdecke. Linda war gerade dabei, einen Salat vorzubereiten. Leo spürte, wie seine Hand allmählich taub wurde. Er setzte sich wieder hin und richtete den Blick auf einen unbestimmten Punkt zwischen Nase und Mund seiner Mutter. Auf seiner Oberlippe glänzte der Schweiß. Im Hintergrund sah er, wie Linda aus der Küche in den Garten hinaustrat und die Tür hinter sich zuzog.
»Du wirst uns jetzt etwas dazu sagen müssen, Schatz«, erklärte Victoria, ohne den Druck auf sein Handgelenk zu mindern. »Schau dir die Schrift in dem Brief an, und dann schau dir die Schrift in deinem Heft an. Du hast dich natürlich bemüht, aber gewisse Ähnlichkeiten sind eben nicht zu vermeiden.« Sie befeuchtete sich die Lippen mit einer schnellen Zungenbewegung. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme wie die einer Grundschullehrerin. »Zum Beispiel der Bogen, mit dem
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