9 - Die Wiederkehr: Thriller
vermeiden, dass Leo ihn hörte.
»Ich kann dich nicht hören, wenn du so nuschelst«, entgegnete Victoria, die sich wieder ihren Fingernägeln widmete. »Und ich glaube, Leo auch nicht. Nicht wahr, mein Schatz?«
»Klar hab ich’s gehört«, antwortete der Junge und schob das Bonbon von einer Backe in die andere. »Und, Papa, der Psychologe hilft mir auch nicht.«
»Doktor Huertas hat dir nicht helfen können, weil du außer Ja und Nein nicht viel herausgebracht hast«, sprach Amador in den Rückspiegel. »Wie ein ziemlich schlecht erzogener Bengel. Wenn du erst mal einen Monat regelmäßig hingehst, werden wir ja sehen, was er sagt«, fügte er hinzu, bevor er sich wieder an seine Frau wandte: »Wie konntest du nur den Brief zu Hause vergessen?«
Der Stau löste sich wie immer am Ende der Hauptstraße auf. Der Wagen war dankbar für den zweiten Gang, den Amador zum ersten Mal nach einer ganzen Weile wieder einlegen konnte.
Wenige Minuten später hielten sie vor der Garagentür.
Pi, der das Knirschen der Reifen auf dem Kies hörte, kam zur Haustür gerannt und setzte sich auf den Fußabtreter. Von dort blickte er erwartungsvoll in Richtung des BMW, dessen Umrisse sich unter dem mondlosen Nachthimmel gegen das dunkle Grün der Gartenhecke abzeichneten.
Victorias Stöckelabsatz verließ als Erstes das Auto.
Ein intermittierendes akustisches Warnsignal zeigte an, dass eine Tür offen stand, bis Victoria sie mit Nachdruck zuschlug und ohne sich noch einmal umzuwenden durch den Vorgarten zur Haustür ging. Sie schloss die Tür auf und traf kurz darauf auf Linda, die über die Treppe heruntergerannt kam.
»Sogar die Katze empfängt mich höflicher als du«, sagte sie. »Hast du uns nicht kommen hören?«
»Bitte entschuldigen Sie, Señora. Ich war gerade oben, um Leos Bett herzurichten.«
»Heute Abend geht er gleich rauf in sein Zimmer«, sagte sie, ohne ihre Haushaltshilfe eines Blickes zu würdigen. »Und zwar ohne Abendessen.«
Sie ging durch das Wohnzimmer in die Küche. Dort schenkte sie sich ein Glas Mineralwasser ein, füllte es bis zum Rand mit Crushed-Ice auf, auf dem sie ein wenig herumkaute, bevor sie einen Schluck von dem Wasser nahm.
Amador ließ sich Zeit. Er machte die Scheinwerfer aus, zog die Handbremse an, warf einen prüfenden Blick ins Handschuhfach und ordnete die CDs darin um. Er wollte Leo die Gelegenheit geben, etwas zu sagen. Aber Leo sagte nichts. Als sein Vater von vorne die automatische Kindersicherung löste, öffnete er die Tür und zog den Rucksack an einem der Träger hinter sich her aus dem Wagen.
Leo legte eine Hand auf den Kopf – ein halbherziger Versuch, sich vor dem immer noch andauernden Regen zu schützen – und trottete in Richtung Haustür. Als er Pi auf dem Fußabtreter sitzen sah, rannte er los. Er kniete sich neben ihn hin und nahm das letzte PEZ-Bonbon aus dem Spender.
»Du glaubst mir, Pi, stimmt’s?«, sagte er und hielt ihm das Bonbon hin.
Pi beschnupperte die Leckerei ausführlich. Er stupste es mit der Schnauze an, bis sie auf den Boden fiel. Dort untersuchte er sie weiter eingehend, während Leo zum ersten Mal an diesem Tag lächelte.
»Du sollst ihm doch keinen Zucker geben«, sagte Amador, als er an Leo vorbei das Haus betrat.
Dort erwartete ihn Linda, um ihm das Jackett und den Koffer abzunehmen.
Leo zwinkerte Pi zu.
»Kommst du mit rein?«, fragte er ihn. »Hier draußen wirst du ja ganz nass, komm!«
Ein kleiner Stups genügte, um den Kater vom Fußabtreter auf den Teppich zu lotsen. Der Luftzug, der zwischen Hauseingang und Küche entstanden war, ließ die Tür krachend ins Schloss fallen. Linda hatte das Küchenfenster geöffnet, um den Geruch nach Verbranntem zu vertreiben. Leo zog sich die Schuhe aus und ging zur Treppe. Seine Füße waren dankbar für den weichen Teppich auf den Holzstufen. Er hasste die Schuhe, die zu seiner Schuluniform gehörten.
Langsam stieg er die Treppe hinauf.
Ihm entging nicht, dass seine Mutter gerade in demselben trockenen Ton mit Linda sprach, den sie auch ihm gegenüber immer öfter benutzte.
Amador drehte den Wasserhahn im Badezimmer neben der Küche auf, um sich Stirn und Nacken zu benetzen, bevor er aufblickte und zu seinem Spiegelbild sagte:
»Dein Sohn ist völlig normal. Alles wird gut.«
Leo betrat sein Zimmer. Er warf den Rucksack, die Jacke, die Krawatte und den Rest der Uniform auf einen Haufen neben dem Schreibtisch.
Er machte kein Licht.
Er blickte an die Zimmerdecke. Zu den Sternen, die
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