9 Stunden Angst
würde er nur noch eine Zahl in der Sterbestatistik des Anschlags sein.
In den letzten Minuten seines Lebens fühlte er sich ausnahmsweise einmal nicht einsam, denn seine Trauer löschte alle anderen Empfindungen aus. Seine Frau und seine Kinder würden sterben. Noch nie waren sie ihm so kostbar erschienen. Er dachte an seine Eltern und daran, wie sie wohl mit dem Verlust umgehen würden. Seine arme Mutter. Vom heutigen Tag an würden ihr jedes Mal die Tränen in die Augen schießen, wenn sein Name fiel. Seinem Vater würde es genauso gehen. Was für ein Schicksalsschlag für die beiden: ihr einziger Sohn, ihre Schwiegertochter, ihre beiden Enkel, alle tot, alle am selben Tag aus dem Leben geschieden. Von diesem Trauma würden sie sich vielleicht nie wieder erholen, zumal sie nicht mehr die Jüngsten waren. George schob den Gedanken beiseite, weil er ihn zu sehr schmerzte. An Sophie und Ben mochte er noch weniger denken, an die Angst und die Schmerzen, die sie erleiden mussten. Seiner Familie wurde Gewalt angetan, und er konnte nichts dagegen tun. Aber es war immer noch seine Familie. Welcher kranke Horror sie auch heimsuchte, das konnte ihm niemand nehmen. Er beschwor das Aroma seiner Liebsten herauf, den zarten, nussartigen Honiggeruch der Kinder, Maggies weiblichen, beruhigenden, verführerischen Duft. Er hatte plötzlich das Haus in der Nase, den heimeligen Geruch nach Teppichen und Kleidern, nach Menschlichkeit und Essen, das in der Küche auf dem Herd stand.
Er kam gerade von seiner Schicht zurück und schloss die Haustür auf. Sophie rannte auf ihn zu und schlang die Ärmchen um seine Beine, während Benji die Treppe heruntergepoltert kam, auf der zweiten Stufe stehen blieb und ihn stürmisch umarmte. Maggie tauchte in der Tür zum Wohnzimmer auf und lächelte, während George rief: »Gruppenumarmung!« Maggie und er nahmen je einen kleinen Frechdachs auf den Arm, und dann steckten sie alle vier die Köpfe zusammen und umarmten sich, wie sie es schon so viele Male zuvor getan hatten. Danach folgten Gelächter und Spiele, bevor die Kinder gebadet wurden, eine Geschichte vorgelesen bekamen und mit einem Gutenachtkuss ins Bett gebracht wurden. »Gute Nacht, hab dich lieb.« Wenn die Kinder schliefen, aßen Maggie und er zu Abend, gönnten sich ein Glas Wein, legten die Füße hoch, sahen fern und redeten, ein ganz normaler Abend bei den Wakehams. Kein Frust mehr, keine Einsamkeit. Nichts anderes zählte mehr. Das war Georges Gott. Denning konnte seinen behalten.
Das Wasser ging ihm nun bis zur Brust. Er würde nicht mehr lange leben. An seinem Tod konnte er nichts mehr ändern, zumindest nicht körperlich. Da sein Bein an die Stange gekettet war, kam er nicht mehr an Denning heran. Sein Gefängniswärter stand in der Mitte des Waggons und betrachtete staunend und stolz die Verwüstung, die er angerichtet hatte. Sie war sein Beweis dafür, dass er in Gottes Auftrag handelte.
George wusste, dass es keinen Gott gab. Und er wusste auch, dass er in Kürze wieder in das Nichts zurückkehren würde, dem er entsprungen war, wenn ihm nicht bald etwas einfiel. Seine letzte Chance war gekommen.
14.05 Uhr
Zug Nummer 037 der Northern Line, sechster Waggon
Es kam ihr vor wie ein Videospiel. Sie kannte zwar nur ein einziges, aber das liebte sie über alles. Es hieß Kill Fire und war ein Ego-Shooter. Jason, ein Jugendlicher aus dem Heim, hatte sie damit spielen lassen, wenn sie ihm im Gegenzug einen runterholte, ein kleiner Preis, wie sie fand. Die Grafik des Spiels war unglaublich. Zumindest hatte Jason das gesagt, also musste es stimmen.
In dem Spiel ging man in irgendeinem Dreckskaff in der Wüste, vielleicht im Irak, eine Straße entlang, während Männer mit Turbanen aus Gebäuden auftauchten und versuchten, einen zu erschießen. Man musste ihnen zuvorkommen und sie zuerst töten. Einige von ihnen hatten statt Gewehren nur Messer. Je näher man sie an sich heranließ, bevor man sie abknallte, desto höher die Punktzahl. Belle hatte das Spiel früher sehr oft gespielt, Jason war also voll auf seine Kosten gekommen.
Sie war begeistert von dem Angriffsversuch der Passagiere. Innerhalb der letzten Stunden war sie regelrecht süchtig danach geworden, Menschen umzubringen. Tommy hatte gesagt, dass sie nur töten dürfe, wenn jemand versuchte, sie am Ausführen ihres Plans zu hindern, und das war ja nun der Fall. Ihr kleines Spielchen war also erlaubt. Die Geiseln versuchten, sie dazu zu bringen, die Fenster zu
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