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9 Stunden Angst

9 Stunden Angst

Titel: 9 Stunden Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Kinnings
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zerschießen, damit sie in den Waggon gelangen konnten. Es fühlte sich haargenau so an, als würde sie wieder Kill Fire spielen. Nun lag es an ihr, die höchstmögliche Punktzahl zu erzielen. Sie ließ zu, dass einer der Angreifer zu ihr in den Waggon kam, obwohl sie ihn mit Leichtigkeit hätte erschießen können, als er unbeholfen durch das zerbrochene Fenster geklettert war. Sie wollte, dass er zuerst näher an sie herankam.
    Ein zweiter Angreifer versuchte es auf der anderen Seite des Zuges, und sie schoss ihm in den Kopf. Ein Kinderspiel, wie Tommy immer sagte. Sie hatte nur einmal Kill Fire gegen ihn gespielt, und obwohl sie schon so lange trainierte und im Laufe der Zeit immer besser geworden war, hatte er ihren Rekord gleich beim ersten Versuch eingestellt. Ein Kinderspiel. Für ihn war alles ein Kinderspiel. Sie liebte Tommy. All dies – die Zugentführung, die Taufe, die Erlösung – war sein Werk. Er besaß die nötige Intelligenz und Sensibilität, um zu begreifen, dass Gott ihn auserwählt hatte. Viele andere hätten diese Erkenntnis verschlafen, wären weiter durchs Leben gegangen, ohne zu verstehen, dass Gott ihnen eine Mission erteilt hatte. Tief in ihrem Herzen war ihr klar, dass auch sie ohne Tommy nicht gemerkt hätte, dass sie etwas Besonderes war, dass sie dazu auserkoren war, Gottes Auftrag auszuführen. Sie konnte sich glücklich schätzen.
    Tommy und sie hatten diesen Augenblick seit langem herbeigesehnt, und nun war es so weit. Sie waren im Tunnel, genau wie Tommy prophezeit hatte. Tommy sprach oft mit Gott und erzählte ihr von diesen Gesprächen.
    »Gott liebt dich, Belle«, sagte er regelmäßig zu ihr. Sie fand es unglaublich, dass Gott unter all den Millionen Menschen, die er geschaffen hatte, ausgerechnet an sie dachte, sie sogar liebte. Sie war Gott wichtig, das hatte sie von Tommy gelernt. In diesem Moment war ihr Zwillingsbruder zwar am anderen Ende des Zuges, aber sie spürte seine Nähe so deutlich, als würde er neben ihr stehen.
    »Jetzt dauert es nicht mehr lange.« Diesen Satz hatte er in den vergangenen Wochen oft zu ihr gesagt. Nun war es wirklich jeden Moment so weit. Den Tod gab es nicht, nicht für sie. Gott würde ihr ewiges Leben schenken, und sie würde neben ihm und Tommy sitzen, gleichauf mit Jesus und seinen Jüngern.
    Weitere Passagiere kamen die Seitenwände entlang und wurden von ihr mit Geschossen empfangen. Einer duckte sich unter ein Fenster, und sie erschoss ihn durch die Waggonwand hindurch. Der Beweis ihrer Zielgenauigkeit – ein Stück Schädel mit Haaren – klatschte von außen gegen das Fenster. Einen weiteren Angreifer erschoss sie, als er durch das Loch kletterte, durch das sie kurz zuvor den mageren Kerl gelassen hatte. Erneut versuchten zwei Passagiere, in den Waggon zu steigen, und sie ließ es zu. Sollten sie ruhig glauben, sie könnten sich an sie heranschleichen. Sie gab sogar vor, ihr Gewehr nachladen zu müssen, und fluchte leise, als gäbe es dabei Probleme. Dadurch lockte sie die beiden Eindringlinge immer näher an sich heran. Sie überlegte, ob sie beide mit einem Geschoss niederstrecken sollte. Dafür gab es die dreifache Punktzahl. Nein, sie würde einen nach dem anderen erschießen. Der erste war nicht besonders befriedigend. Sie schoss ihm in die Brust, und er wurde nach hinten geschleudert und war schon tot, bevor sein Kopf gegen einen Sitz schlug. Der zweite Schuss war erstklassig. Sie trennte dem Angreifer sauber den Kopf ab.
    Wo war der magere Typ, den sie zuerst in den Waggon gelassen hatte? Bis vorhin hatte er am Ende einer Sitzreihe gekauert. Wahrscheinlich hatte er Muffensausen bekommen. Sie konnte es ihm nicht verdenken, nach allem, was ihr Breischläger mit seinen Kameraden angerichtet hatte. Er musste von Anfang an gewusst haben, dass sie ihn umbringen würde. Sie fand es mutig von ihm, dass er es dennoch versuchte. Für so etwas empfand sie großen Respekt.
    Sie wartete. Irgendwann würde er sich bemerkbar machen, zum Beispiel, indem er auf sie zustürmte. Sie würde ihn ganz nah herankommen lassen und dann schießen. Wo steckte er nur?
    Sie machte einen Schritt nach vorn, und da schoss er plötzlich vor ihr aus dem Wasser. Er war zu nah herangekommen, viel zu nah. In der Hand hielt er ein großes Jagdmesser, mit dem er nach ihr ausholte. Sie spürte einen Lufthauch, als die Klinge an ihrer Wange vorbeisauste. Zwei Zentimeter näher, und er hätte ihr das Gesicht aufgeschlitzt. Sie rangen miteinander. Der Mann war zwar

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