999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
kaum anzunehmen, und damit war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Untergang Mirandolas seinen Lauf nahm; vielleicht war auch der Jude verloren, aber das hatte ohnehin keinerlei Bedeutung für Sansoni.
»Wir müssen das Konzil mit allen Mitteln verhindern«, sagte Innozenz nachdrücklich, »obwohl mir schon schlecht wird, eine einfache Gelehrtenversammlung so zu nennen … und überhaupt, was für Gelehrte dieser dreiste Graf da geladen hat: Nur Scharlatane und Häretiker!«
»Absolut.«
»Versuche in der Zwischenzeit herauszufinden, ob der jüdische Buchdrucker noch alle Exemplare besitzt. Wenn dem so sein sollte, dann kauf sie ihm alle ab.«
»Alle, Eure Heiligkeit?«
»Ja, alle.«
»Wäre es nicht besser und günstiger, sie einfach zu beschlagnahmen?«
»Du Tor! Niemand darf wissen, dass wir … davon wissen. Und denk daran, dass der Graf von Mirandola Günstling von Lorenzo de’ Medici ist. Hier in Rom ist er Gast von Kardinal de’ Rossi, dem Neffen des Prächtigen. Und ich will nicht, dass uns ein diplomatisches Missgeschick passiert. Vorsicht, Sansoni, Vorsicht.«
»Und wenn es noch mehr Exemplare gibt als diejenigen, die der Jude in seinem Besitz hat?«
»Beweg dich. Finde sie! Und versuche auch die Einladungen zum Konzil abzufangen, wenn sie nicht bereits unterwegs sind! Kurz und gut: Tu endlich etwas, bei Gott!«
Sansoni musste über die Verwünschung des Papstes kichern.
»Euer Wille geschehe, Eure Heiligkeit.«
»Der Wille Gottes, Sansoni, der Wille Gottes.«
Rom
Freitag, 15. Dezember 1486
Im Hause des Kardinals de’ Rossi saß Giovanni Pico am heimelig knisternden Kaminfeuer und schrieb einen Brief an Girolamo Savonarola, seinen »brüderlichen Feind«, wie er ihn zu nennen pflegte. Der Ton seines Briefes war väterlich, obwohl der Mönch elf Jahre älter war; Pico konnte die Ausbrüche des Mönchs, die Florenz erschütterten, mittlerweile fast wohlwollend und ohne Polemik betrachten. Bald würde die Aufgabe vollbracht sein und alles ans Licht kommen. Die Menschheit würde verstehen und die Lehren Platons endlich umsetzen: Wenn man um das Gute weiß, kann man nur im Guten handeln. Graf Mirandola hielt inne und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war klar, und die zarten, engelsflügelgleichen Wolken verbargen ihre Eiskristalle. Es würde ein harter Winter werden.
Die Tür öffnete sich, ohne dass vorher angeklopft worden wäre, und eine Schattengestalt glitt lautlos ins Zimmer. Ein eisiger Hauch wehte hinter ihr hinein. Hinterrücks näherte sie sich dem Grafen und legte eine Hand auf seine Schulter. Dieser hob nicht einmal den Blick, sondern tauchte seelenruhig die Feder ins Tintenfass, um noch ein paar Worte zu schreiben:
Ich schreibe dem berühmtesten Girolamo auf Erden und spüre die Berührung von dem, an dem mir am meisten liegt. Heute ist ein wirklich besonderer Tag.
»Habt Ihr mich erkannt?«, fragte die Gestalt und zeigte ihr Antlitz.
»Girolamo Benivieni, ich würde Eure Berührung auch durch eine Pferdedecke erkennen. Kommt, lasst Euch umarmen.«
Innig umarmten sich die beiden Freunde, aber als Benivieni das Gesicht seines Freundes in seine Hände nahm, erstarrte dieser. Obwohl Benivieni ihm teuer war, mochte der Graf nicht gewisse – und übertrieben zur Schau gestellte – Bezeugungen von Zuneigung. Rasch löste er sich von Benivieni und bedeutete ihm, sich zu ihm zu setzen.
»Setzt Euch, Girolamo, und sagt mir: Seit wann seid Ihr in Rom?«
»Ich kam gestern an. Nun, ich hatte schon zu lange keine Nachrichten von Euch und ich war … ich bin beunruhigt.«
»Worüber?«, antwortete ihm der Graf lächelnd. »Als Lebende haben wir nichts zu befürchten, und was sollte uns als Tote noch ängstigen können?«
»Diesmal werdet Ihr mich nicht mit Eurer Philosophie verwirren. Ich habe Grund zur Furcht, und darum bin ich hier.«
»Ach, kommt schon, Girolamo, die Dinge, von denen Ihr wisst, nehmen ihren Lauf. Meine Thesen sind fertig und auch die Einladungen. Ich war gerade dabei, an Savonarola zu schreiben – ich möchte, dass auch er kommt. In zwei Monaten …«
»In zwei Monaten seid Ihr tot! Und Eure Freundschaft mit Lorenzo wird Euch nicht retten. Die Medici sind einflussreich, aber Ihr … Ihr fordert den Allmächtigen heraus!«
»Nein!«, antwortete Mirandola mit Vehemenz. »Ich fordere die Dunkelheit der Ignoranz heraus, die Arroganz der Macht und all die Ratten, die seit Jahrhunderten die Welt überschwemmen und sogar die Luft verderben, die wir
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