999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
er atemlos die 35 Stufen der weißen Marmortreppe zur Basilika und zum Grab des Petrus hinaufstieg. Viele Gläubige krochen zum Zeichen ihrer Demut auf Knien hinauf, wie es sogar Karl der Große getan hatte; aber er, Eucharius, würde das sicher nicht tun. Er brauchte keine weiteren Demütigungen.
Die drei mächtigen Bogentore, die am Ende der Treppe vor ihm auftauchten, schienen ihm eine Entscheidung abringen zu wollen: Durch welches sollte er gehen? Jedes hatte eine spezifische Bedeutung – und er kannte sie im Gegensatz zu den meisten Christen: Das Tor der Gerechtigkeit war das linke, das der Wahrheit das mittlere und das rechte das des Verstandes. Er wählte das dritte, weil ihn weder Gerechtigkeit noch die Wahrheit hätten retten können. In seinem Umhang hatte er ein Exemplar der Conclusiones seines Auftraggebers, des Grafen Giovanni Pico della Mirandola, verborgen. Niemand hielt ihn auf, als Eucharius durch das rechte Tor schritt, und so fand er sich unter dem säulengestützten Kreuzgang wieder, von dem aus er die gigantische Fassade der fünfschiffigen, von Kaiser Konstantin erbauten Basilika bewundern konnte. Um ihn herum, stellte Eucharius mit einem Seitenblick fest, war alles halb verwahrlost, eine Art Baustelle, auf der niemand mehr arbeitete. Vor vielen Jahren hatte Papst Niccolò V. den Baumeister Leon Battista Alberti mit der Renovierung der gesamten Basilika beauftragt. Eucharius kannte die Kunstfertigkeit Albertis; einmal hatte er dessen fantastisches Werk, die De re aedificatoria , bewundern können. Sie war von dem florentinischen Buchdrucker Alemanno gedruckt worden, einem Künstler in seinem Fach und jüdischer Abstammung wie er. Seit dem Tod des Papstes waren die Arbeiten an der Basilika jedoch zum Stillstand gekommen, und das Gotteshaus präsentierte sich in zerstörten Mauern, kaputten Deckengewölben und Schuttbergen allüberall.
»Was ist nur aus dir geworden, heilige Kirche Roms?«, murmelte Eucharius. »Sieh dich nur an … Und ich lege mein Vertrauen, meine Hoffnungen, ja, mein Leben in deine Hände? ›Wilde Hure‹ hat dich ein florentinischer Poet genannt: Eine Hure, die es mit den Mächtigen der Welt treibt. Nun bist du wie die Wölfin aus der Apokalypse, die getötet und in die Hölle zurückgeschickt wird, aus der sie kam.«
Eucharius erschrak, als ihn ein aus der Basilika kommender Dominikanermönch, der sein Gesicht unter einer Kapuze verbarg, gebieterisch aufhielt. Ehrfürchtig stotterte der Buchdrucker, dass er vom Kardinalvikar persönlich herbeibefohlen worden sei. Statt einer Antwort bedeutete ihm der Mönch mit einer knappen Kopfbewegung, ihm zu folgen.
Der Buchdrucker nickte eingeschüchtert und achtete darauf, einen gebührenden Abstand zwischen sich und dem Mönch einzuhalten.
Sie traten aus der Kirche heraus und gelangten durch den Portikus in ein mit Zinnen versehenes Gebäude, das von schwer bewaffneten Wächtern gesichert wurde. Der Buchdrucker wurde in einen Raum gebracht, der nur mit einem der florentinischen Mode entsprechenden Kreuzstuhl und einem Gebetsbänkchen eingerichtet war, auf das er sich sogleich kniete. Kurz darauf trat aus einer Tür zu seiner Rechten eine hochgewachsene Gestalt, die ein purpurfarbenes Gewand und eine rot marmorierte Seidenkappe trug. Eucharius wollte aufstehen, aber die Gestalt bedeutete ihm sanft – fast als gewähre sie ihm eine Gnade –, knien zu bleiben und nahm auf dem Stuhl Platz.
»Ich bin Kardinal Sansoni, der Kardinalvikar. Ich höre, Eucharius Silber Franck. Und versuche, offen und ehrlich zu sein, denn Gott sieht dich.«
* * *
Das Gezeter von Innozenz war im ganzen Palazzo zu hören. »Was glaubt er eigentlich, wer er ist, dieser arrogante Jüngling? Will er meinen Platz einnehmen? Ist er darum aus Paris nach Rom zurückgekehrt? Ohne meine Erlaubnis kann Graf Mirandola in Rom nicht einmal das Verzeichnis der Dirnen veröffentlichen.«
»Eure Heiligkeit, ich bitte Euch, jeder kann Euch hören …«
»Ach, ich fass’ mir ans Gemächt!«
»Eure Heiligkeit, ich verstehe nicht.«
»Natürlich, wie solltest du auch? Schließlich bist du ja auch dumm und beschränkt.«
»Und was bedeutet das nun, Eure Heiligkeit?«
»Das bedeutet, dass es so unglaublich ist, dass ich es kaum fassen kann! Ach, lass es einfach. Sag mir lieber, ob du dieses Buch gelesen hast.«
»Nein, Eure Heiligkeit, es befindet sich erst seit wenigen Minuten in meinem Besitz. Der Buchdrucker hat es selbst gebracht, ganz in Demut.«
»Wie
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