999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
und Montag, 8. Juli 1938
Giacomo de Mola war auf Giottos Kampanile gestiegen und ging auf die dreitürigen Spitzbögen zu. Nach den 400 erklommenen Treppenstufen war er atemlos, aber er fühlte sich gut und mit sich im Reinen. Er wischte sich ein paar Schweißtropfen von seiner Sonnenbrille und sog gierig die leichte Brise in seine Lungen. Weil er nicht schwindelfrei war, vermied es Giacomo de Mola, nach unten zu blicken. Stattdessen ließ er seinen Blick über die Dächer bis zum Palazzo Vecchio schweifen. In der drückenden, hochsommerlichen Schwüle waren nur ein paar Hunde und vereinzelte Stimmen zu hören. De Mola holte sein schwarzes Notizbüchlein hervor, in dem er jeden Sonntag die Ereignisse der letzten Woche notierte. Nichts Persönliches oder Verfängliches, das ihn kompromittieren könnte, verlöre er das Buch – de Mola beschränkte sich auf banale Schilderungen, die für niemanden von Interesse wären. Neben den Ereignissen und verschiedenen Hinweisen gab es nur eine Kuriosität: eine fortschreitende Nummerierung neben jedem Sonntag. Die von heute lautete 23.503. Giacomo lächelte bei der Vorstellung, dass das Buch bereits seit dreiundzwanzigtausendfünfhundertunddrei Sonntagen im Besitz seiner Familie war. Um es zu schützen, waren die de Mola über ganze Generationen hinweg wie Nomaden umhergereist – waren jedoch, wann immer es ihnen möglich war, nach Florenz zurückgekehrt. Über Jahrhunderte hinweg war der Omega-Kreis ein sicherer Hafen gewesen, Schutzraum und Versteck in einem – und das nicht nur an den vielen tausend Sonntagen, sondern an jedem einzelnen gesegneten Tag, der seit dem Jahr des Herrn 1487 ins Land gegangen war. Ja, Florenz war immer eine liebevolle Mutter gewesen, so wie …
Eine Taube ließ sich auf der Brüstung nieder, und de Mola war sich nicht sicher, ob er sie vertreiben oder sitzen lassen sollte. Die Exkremente dieser Tiere hatten bereits die Marmorschnörkel der Spitzbögen verätzt. Er hielt mit seinen Notizen inne und dachte daran, wie viele Generationen von Tauben und von de Molas sich unter ähnlichen Umständen bereits begegnet waren, und entschied sich, den Vogel nicht zu verjagen. De Mola hatte keine Ahnung, wie lange eine Taube lebte, aber er wusste, dass er seit Ferruccio der 22. de Mola war, der das Buch hütete. Und dass er möglicherweise der letzte sein würde. Andererseits war jetzt nicht die richtige Zeit dafür – so wie auch in den vergangenen Jahrhunderten nie der richtige Moment gewesen war. Auch die Renaissance mit den unaufhörlichen Kämpfen zwischen den mächtigen italienischen und europäischen Herrscherfamilien war nicht geeignet dafür gewesen; vielleicht hätte es während des Jahrhunderts der Aufklärung geschehen können, aber in dieser Zeit hatten sich sogar ganze Länder bekriegt. Und mit Sicherheit waren auch die letzten Jahre des großen Krieges nicht geeignet gewesen. Anstatt das Grauen zu lehren, hatte er den noch viel gefährlicheren Samen des Wahnsinns gesät. Genau das machte ihm jedoch wirklich Angst: Beobachten zu müssen, wie sich in Spanien und Italien der Führerkult in das Bewusstsein der Menschen geschlichen hatte. Momentan beschränkte sich der Kult hierzulande rein auf Äußerlichkeiten wie Paraden und Aufmärsche – in Deutschland hingegen hatte sich die Hitler-Verehrung zu einer wahren Religion entwickelt. Dort war der Führer nicht nur der oberste Priester, sondern Gott selbst. Das Buch jetzt an die Öffentlichkeit zu bringen würde genau das Gegenteil von dem bewirken, was es eigentlich sollte. Die Offenbarung würde eine zerstörerische statt heilende Kraft haben und Zerstörung statt Rettung bringen. Wie viele Hüter, wie viele de Molas würden wohl noch nach ihm kommen? Giovanni würde seinen Namen Volpe bald in de Mola ändern. Er würde die Tradition weiterführen, selbstverständlich, aber auch er war vergänglich. Vielleicht im neuen Jahrtausend …
Die drei Glocken begannen zweistimmig zu läuten, um die Vesper anzukündigen. Die Taube flog davon, und de Mola hielt es auch für besser, den Domplatz zu verlassen, bevor er sich zu füllen begann. Er schaute auf die Uhr; es war viertel vor fünf. Um diese Zeit müsste Giovanni in Rom bereits im Hotel angekommen sein. De Mola freute sich, dass Giovanni dieses Mal einen solventen Käufer gefunden hatte, der bereit gewesen war, 1.500 Lira für ein mittelhochdeutsch-lateinisches Wörterbuch aus dem 16. Jahrhundert zu bezahlen. Giovanni wurde immer
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