999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
– und es stimmte, dass sie oft und ohne Grund tränten –, aber seine Augen gehörten immer noch ihm.
»Eure Heiligkeit, segnet mich«, sagte Cristoforo und kniete vor ihm nieder.
»Ja, schon gut«, antwortete der Papst hastig und half ihm hoch. »Du hast alle meine Segnungen, aber jetzt komm: Wir haben nicht viel Zeit zu verlieren.«
Cristoforo wurde in das Schlafgemach des Papstes gezerrt – im wahrsten Sinne des Wortes – und auf einem niedrigen Sessel vor dem Seiner Heiligkeit platziert.
Der Pontifex saß auf seinem Papstsessel, sah auf seinen Sohn herab und erkannte sich selbst in ihm wieder. Ihre Ähnlichkeit war außergewöhnlich: Cristoforo war nicht so gutaussehend und hochgewachsen wie Fränzchen, aber er war zweifellos sein Sohn und das Ebenbild von Innozenz als Jüngling: Das gleiche breite Gesicht, die fliehende Stirn und die Hakennase. Sogar die Lippen und das runde Kinn glichen einander. Der Papst war schon wieder gerührt (vielleicht musste er aber auch nur die Augen zusammenkneifen, weil es zu dunkel in seinem Gemach war). Er vertraute Cristoforo wie keinem anderen. Nun musste er ihm einige Geheimnisse anvertrauen, obwohl Cristoforo nicht zu seinem Hofstaat gehörte (vielleicht vertraute er ihm gerade deshalb so sehr). Innozenz wusste nicht so recht, wo er anfangen sollte.
»Sag mir, mein Sohn, was führt dich nach Rom?«, setzte der Pontifex an.
»Vater«, antwortete Cristoforo perplex und bereute es sofort, ihn so genannt zu haben, »ich dachte, Ihr hättet mich gerufen.«
»Ach ja. Das stimmt, ich habe dich rufen lassen. Und weißt du auch warum?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
Innozenz war verwirrt. »Richtig. Woher solltest du es auch wissen«, sagte er schnell und überlegte kurz. »Außer Fränzchen hat …«
Der Papst kniff die Augen noch stärker zusammen und starrte ihn an, aber Cristoforo neigte den Kopf zur Seite und zog leicht die Schultern hoch.
»Fränzchen sagte nur, dass ich so schnell wie möglich kommen solle, weil Ihr mir etwas Wichtiges zu sagen hättet.«
Innozenz gefiel diese Antwort. Er entspannte sich und versuchte, es sich bequemer zu machen – im Moment kam es ihm vor, als würde er auf einem Sack Linsen sitzen. Er erhob sich aus seinem Sessel und ging zu einem großen eisenbeschlagenen Sekretär aus Nussbaum, der an der Wand gegenüber seinem Baldachin stand. Er hatte ihn sich von seinem Haus- und Hofarchitekten Giuliano da Sangallo anfertigen – und von Lorenzo de’ Medici bezahlen lassen. Mit dem großen Schlüssel, den er an seinem Gürtel trug, ließ er das schwere Schloss aufschnappen und holte aus einer Schublade das Manuskript hervor.
»Hier«, sagte er zu seinem Sohn, »was hältst du davon?«
Cristoforo, der versuchte, seine Überraschung zu verbergen, nahm das Manuskript entgegen und begann es zu untersuchen. Innozenz ging derweil nervös im Zimmer auf und ab. Die Gicht holte sich jedoch mit einem stechenden Schmerz ihren Tribut und zwang ihn zu seinem Leidwesen, sich wieder zu setzen. Cristoforo las den Titel und strich gedankenvoll mit den Fingern über die geprägte Schrift. Für den Papst sah es ein wenig so aus, als wolle er ergründen, was es mit dem Inhalt auf sich habe.
»Darf ich eine Frage stellen, Eure Heiligkeit?«
»Ich bin dein Vater, wenn wir allein sind, dann nenne mich bei dem Namen, den ich verdiene.«, mahnte Innozenz voller Zuneigung und sah sich um. »Hier sind wir allein – hoffe ich zumindest.«
»Wie Ihr wollt, Vater. Was soll ich tun?«
»Oh, belàn ! Ich will, dass du mir diese Blätter öffnest! Aber pass auf, dass die Seiten nicht zerstört werden! Ich vertraue nur dir, denn ich kenne deine Kunstfertigkeit. Und deine Verschwiegenheit: Niemand, hörst du, niemand darf diese Seiten lesen. Nicht einmal du. Das darf nur der Papst, ist das klar?«
Cristoforo nickte, denn er war niemand, der Fragen stellte, auf die er keine Antworten erhalten würde. Allerdings musste er wissen, was er im Falle eines Misserfolges zu erwarten hatte.
»Darf ich wissen, Vater, wer diese Seiten geschrieben und wer sie auf diese Art und Weise zusammengefügt hat?«, fragte der junge Mann vorsichtig.
»Was interessiert dich das?«, fragte ihn der Papst argwöhnisch.
»Weil es besser ist zu wissen, mit wem man es zu tun hat. Ich möchte wissen, ob er Muselmane, Christ, Jude, Osmane, Spanier oder Perser ist – denn wenn er diese Seiten geheim halten wollte, wird er eine Technik verwendet haben, die in seinem Volk oder in seinem Land
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