999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
bis in das Land der aufgehenden Sonne zu reisen!«
»Leonora, du bist ein Mädchen mit vielen Fähigkeiten, und jede davon ist wundervoll. Ich nehme dein Angebot gerne an. Du kennst sogar eines meiner liebsten Bücher, Die Wunder der Welt von Marco Polo. Nur er nennt China ›das Land der aufgehenden Sonne‹. Du kannst also lesen?«
»Ich kann sogar schreiben. Und musizieren und nähen. Und all dies dank der Santa-Chiara-Nonnen, die mich nach dem Tod meiner Großmutter großgezogen haben. Und nicht nur das. Ich kann auch aus der Hand lesen.«
»Möchtest du aus meiner lesen?«, fragte Giovanni freundlich.
»Gerne«, sagte Leonora eifrig, »aber ich bin keine Hexe, wenn Ihr das meint.«
»Eine Hexe? Nein, das bist du wirklich nicht, wenigstens nicht in dem Sinne, wie du denkst.«
Giovanni lächelte und drehte sich mit ausgestreckten Armen um sich selbst, so als wolle er die ganze Welt umarmen. »Eine Hexe ist eine alte Vettel, die sich die Schönheit von teuflischen Dämonen erkauft und Unglück über die Kirchenväter bringt«, sagte er fröhlich und zwinkerte Leonora zu. »Hast du schon einmal so etwas getan?«
Sie lächelte zurück und schüttelte mit gesenktem Blick den Kopf. »Nein, edler Herr«, antwortete sie.
»Siehst du, obwohl du Magie anwendest, bist du keine Hexe. Leonora, Magie zu praktizieren ist nichts anderes, als das Gute auf Erden zu suchen. Sie ist die perfekte Wissenschaft, sowohl im Himmel«, und er zeigte nach oben, »als auch auf der Erde.«
»Was Ihr alles wisst … Dann seid Ihr also auch ein Magier?«
»Nein«, antwortete Giovanni ernst, »so wenig wie du eine Hexe bist. Die Magie wohnt in jedem von uns … In uns Menschen liegen große Schätze verborgen, wir kennen jedoch nicht den Weg, um sie zu bergen. Und doch gibt es Zeichen …«
Giovanni hielt inne, als er den ängstlichen Blick von Leonora wahrnahm. Er wollte ihr keine Angst einjagen, und der Moment der Wahrheit war noch nicht gekommen.
»So, nun hören wir aber auf, über Magie zu sprechen. Du wolltest mir doch aus der Hand lesen, nicht wahr? Welche willst du? Ich glaube, die linke.«
»Nein, beide: Hände übertragen etwas. Wenn man die Hände eines Menschen berührt, lernt man ihn besser kennen: Seine Gedanken, seine Gefühle, und man lernt schnell, einen guten von einem schlechten Zeitgenossen zu unterscheiden. Wenn der Mensch schlecht ist, behalte ich es für mich – und erfinde stattdessen irgendeine Geschichte. Danach gehe ich meiner Wege und denke nicht mehr daran.«
»Woher soll ich nun aber wissen, ob deine Vorhersage richtig ist? Möglicherweise tischst du mir ja eine Lüge auf?«
»Ich habe Euch schon kennengelernt; ich will nur noch etwas mehr über Euch wissen.«
Giovanni öffnete seine wohlgeformten Hände. Leonora betrachtete bewundernd die schlanken, feingliedrigen Finger, die aussahen, als könnten sie zupacken. Er hatte männliche und weibliche Hände gleichermaßen. Leonora drückte sie sanft und schloss die Augen. Eine Woge von Gefühlen erfasste das Mädchen. Sie erschauderte.
»Ihr seid schön, Giovanni, und jung. Aber Eure Hände sagen etwas anderes. Mir war, als hätte ich ein ganzes Leben in Euren Händen gefühlt, viele Jahrzehnte. Es ist, als würde ein Feuer in Euch glühen – etwas, das zu brennen beginnt, wenn es aus Euch herauskommt.«
Für einen Augenblick war Giovanni Pico ganz still. Dann lächelte er. »Das ist meine Feuerkugel, Leonora, du hast recht gesehen.«
»Welche Kugel?«
»Sie erschien am Tag meiner Geburt. Der Medicus und die Hebamme sahen sie im Raum schweben. Als ich fünfzehn Jahre alt war, sah ich sie wieder. Es war der Tag, an dem meine Mutter starb. Seit diesem Tag fühle und sehe ich sie oft in mir, letzte Nacht zum Beispiel. Sie hat sogar zu mir gesprochen. Du bist der erste Mensch, der sie spürt, ohne von ihr gewusst zu haben. Ich darf also annehmen, dass ich nicht vollkommen wahnsinnig bin.«
»Nein, Ihr seid nicht wahnsinnig, Giovanni.«
Einen winzigen Augenblick nur kamen sie sich näher; dann wichen beide zurück und senkten den Blick.
»Ihr seid sehr neugierig und würdet gerne wissen, wer ich wirklich bin«, sagte Leonora lächelnd. »Aber jetzt ist es spät geworden, und ich muss mich um Eure Kleider kümmern!« Sie eilte in Richtung Tür und lief mit dem Sack voller Kleider davon, wild entschlossen, so viel Geld herauszuschlagen, wie sie nur konnte.
Rom
Montag, 25. Dezember 1486
Innozenz hatte gerade die Weihnachtsmesse zelebriert. Vor
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