999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
Religionen ähneln einander, wenn man genau hinsieht. Die Anerkennung dieser Gleichheit aber lässt nur den einen Schluss zu: Alle Kriege, die wir bisher im Namen Gottes führten – für welchen auch immer – waren falsch. Die Verfolgungen aus einer Glaubensüberzeugung heraus, und allen voran die Kreuzzüge, der sogenannte Heilige Krieg, haben mit dem Blut von Christen, Juden und Muselmanen die heilige Erde nur rot gefärbt, ohne sie deshalb fruchtbarer zu machen.
Über diese Erkenntnis wollte ich mit Christen, Juden und Muselmanen in einer Versammlung disputieren – und am Ende mit unseren Brüdern den Schlüssel für unsere gemeinsame Identität finden.« Giovanni lächelte. »Wie Ihr Euch vorstellen könnt, gefiel dies der Kirche nicht sonderlich, die ich – obwohl ich ihr immer noch angehöre – nur zu gerne reformiert und vereint sehen würde.
Das zweite Buch, das ich übrigens hier mit mir führe, ist noch wertvoller als das erste …« Wieder lächelte Giovanni und hielt inne. »Ich sehe, ich habe Euch verstört.«
Ferruccio war sehr ernst geworden. Er spielte mit seinem Dolch und fuhr gedankenvoll über das kalte Metall. Dann nahm er den Dolch in beide Hände und umklammerte dessen Griff.
»Was Ihr gesagt habt, klingt seltsam«, sagte er, »jedenfalls für mich. Einer meiner Vorfahren hat für genau diese Überzeugung bitter bezahlen müssen. Sprecht weiter, Graf, und entschuldigt die Unterbrechung.«
»Einer Eurer Vorfahren? Wer seid Ihr, Ferruccio? Jetzt habt Ihr meine Neugierde erweckt. Diese Charakterschwäche verbindet uns.«
Ferruccio stand auf, ging zum Fenster und holte tief Luft.
»Ich glaube, ich bin Euch schuldig, meine Identität aufzudecken, Graf«, sagte er, ohne sich umzudrehen, »Eures Vertrauen wegen, das Ihr mir bis jetzt entgegengebracht habt. Ich bitte Euch jedoch, gleich wieder zu vergessen, was ich Euch nun sage, und keinem Menschen davon zu sprechen.« Als Giovanni nickte, fuhr Ferruccio fort: »Mein Name ist nicht von so edler Herkunft wie der Eure, aber ich trage ihn nichtsdestotrotz mit Stolz. Ich nenne mich de Mola, Ferruccio de Mola«, sagte er und drehte sich zu Giovanni um. »Vielleicht sagt Euch dieser Name nichts, aber wenn Ihr ihn auf Französisch aussprecht, werdet Ihr mehr über mich wissen.«
Giovanni Pico schaute ihn überrascht an. Auf Französisch aussprechen ? Was sollte das bedeuten? Plötzlich traf ihn der Blitz der Erkenntnis, und er verstand oder glaubte zu verstehen: Wenn dieser Ferruccio derjenige war, für den er ihn hielt, dann war sein Name einer der berühmtesten der Christenheit, ein Name, dessen Träger die größte Macht und die schlimmste Kerkerhaft kennengelernt hatte und der heute noch nach Schwefel roch.
»Ihr seid also der Nachkomme von Ritter …«, sagte Giovanni atemlos.
»Ja, Graf, von Jacques de Molay – in direkter Linie.«
Nun schaute Giovanni sein Gegenüber zum ersten Mal wirklich an – mit einer Bewunderung, die nicht nur auf seine Kampfeskunst zielte. Jacques de Molay war der letzte Anführer der Tempelritter in Jerusalem gewesen. Giovanni wusste nur allzu gut um ihre heroischen militärischen Unterfangen, obwohl seit mehr als zweihundert Jahren, seit der Auflösung des Ordens, ein Schleier des Schweigens und Vergessens über sie ausgebreitet worden war. Noch besser als ihre Geschichte kannte er jedoch ihre religiösen Weltanschauungen.
»Jacques de Molay«, flüsterte Giovanni ehrfürchtig, »der vor Notre Dame von Philipp dem Schönen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Eine Schandtat, die sich bis zum heutigen Tage in unsere Erinnerung eingebrannt hat.«
»Ihr glaubt also nicht an seine Schuld?«, fragte Ferruccio leise.
»Schuld?« Giovanni lachte bitter. »Er war so schuldig wie Catull, der Verteidiger der römischen Republik. Auch das ist eine dieser Geschichten, die von den Gewinnern geschrieben wurde. Den Namen de Mola würde ich vielleicht sogar mit noch mehr Stolz tragen als den meinen. Und ich sage Euch noch etwas, Ferruccio. Das, was ich Euch über meine Thesen erzählte, wussten schon die Wegbegleiter Deines Vorfahren, als sie sich nachts vor den Mauern Jerusalems heimlich mit den Weisen des jüdischen und muselmanischen Glaubens trafen. Am Tage mussten sie einen Krieg gegen die Andersgläubigen führen und sich gegenseitig umbringen. Aber in der Nacht konnten sie sich treffen und darüber disputieren, wie nahe sie alle dem einzigen Wesen waren, das über ihnen stand. Vielleicht hatten sie noch nicht
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